Moralische Impfpflicht – ein notwendiger Disput

Klaus Heidegger
8. Oktober 2021 – im Zug dieser Zeit

Sehr geehrter Rechtsanwalt NN!

Danke zunächst für Ihr Schreiben, das mir Gelegenheit gibt, meine Sichtweise in einem offen gehaltenen Brief genauer zu begründen. Ich schreibe diese Zeilen übrigens, während ich am Ende einer Schulprojektwoche mit einer Maske im Zug sitze – und trage diese Maske gerne, um mich und andere zu schützen. Zugleich wünsche ich mir aber wieder eine Zeit, in der wir endlich auf solche Schutzmaßnahmen verzichten können. Je mehr Menschen sich impfen lassen, desto schneller wird dies möglich sein.

Unqualifizierte Einschüchterungsstrategien

Ihr Brief an die Schulleitung entspricht einer Vorgangsweise, die leider nur wenig kommunikatives Feingefühl aufweist. Erstens stelle ich mir die Frage: Wer ist es, der einen Rechtsanwalt beauftragt, gegen eine Lehrperson zu intervenieren? Haben diese Personen, die aus der Anonymität heraus agieren, selbst zu wenig Argumente oder zu wenig Courage für eine offene Diskussion? Im Rahmen der Schule gibt es schulgesetzliche Usancen, die bei Konflikten zwischen Lehrpersonen und Eltern vorgesehen sind.

Zunächst ist mir in meinem Unterrichtsalltag wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler das Klassenzimmer als einen Ort sehen, wo Gespräche stattfinden und Differenzen ausgetauscht werden können. Widerspruch offen zu äußern ist eine wichtige Qualifikation, die in der Schule gelernt und eingeübt werden kann. Wenn Sie jetzt vielleicht unterstellen, Schülerinnen und Schüler würden Angst vor mir haben, dies zu tun, dann fragen Sie selbst jene ins Dunkel der Anonymität eingetauchten Personen, die von hinten her Eltern informieren.

Ein logischer zweiter Schritt wäre, wenn bei Beschwerden der Weg über die entsprechende Lehrperson ginge. Spätestens in der Oberstufe eines Gymnasiums sollte es den Eltern bekannt sein, dass es Sprechstunden gibt, die für Differenzen vorgesehen sind. Auch unser Schulleiter sagt immer wieder in Konferenzen und dergl.: Bitte zunächst direkt die Lehrpersonen informieren, bevor ein anklagendes Verhalten an die Schulleitung stattfindet. So manches Face-to-face-Gespräch würde helfen, Verständnis aufzubauen, statt einen Schützengraben zu ziehen, wo dann aus dem Hinterhalt geschossen wird. Schade, dass ich keine Möglichkeit habe, mit jenen angeblichen Eltern in Kontakt zu treten. Ich würde mit ihnen gerne im Gespräch sein.

Am liebsten würde ich also sagen: Zurück an den Start. Ein offenes Gespräch.

Letztklassig finde ich freilich, wie Sie am Schluss des Briefes mit einer juridischen Keule drohen, um einen Lehrer einzuschüchtern, der mit Schülerinnen und Schülern angesichts der Gefahren der Corona-Pandemie ein Für-und-Wider die moralische Impfpflicht thematisiert. Dazu noch ein paar zusätzliche Argumente, weil mir scheint, dass Sie die wesentlichen Punkte nicht verstehen wollten.

Abwertend schreiben Sie, dass ich für die „Impfpflicht werbe“ – was in Ihren Augen nicht zulässig sei. Leider haben Sie auch in diesem Punkt mein pädagogisches Anliegen nicht verstanden: Ich arbeite mit den Schülerinnen und Schülern zu Fragen des Lebens, der Ethik, der sozialen Verantwortlichkeit, über moralische Verpflichtungen – und über all dies auch an Beispielen, zu denen die Schülerinnen und Schüler viele Fragen haben. Wenn Sie schon von „Werbung“ sprechen – was freilich ein von Ihnen in diesem Kontext böse gemeinter Begriff ist – dann ist es zumindest eine „Werbung“ für Rechtsstaatlichkeit, für soziale Verantwortlichkeit und für Demokratie.

Moralische Impfpflicht

In einem Punkt könnten wir uns gut treffen. Ich bin nicht für eine Rechtsverpflichtung zur Impfung. Es soll keinen Zwang geben. Wer Bedenken gegen die Impfung hat, darf nicht dazu verpflichtet werden. Bei der moralischen Impfpflicht geht es hingegen darum, auf die Eigenverantwortung hinzuweisen. Es gilt die Frage. Was kann ich auch im Sinne des Gemeinwohls tun, um andere und mich selbst in Pandemie-Zeiten zu schützen?  Eigenverantwortung heißt, die Folgen des eigenen Handelns zu verantworten – die Folgen für sich selbst und für andere.  Eine moralische Impfpflicht stellt dabei keinen Eingriff in Freiheitsrechte dar. Ich schließe mich der Direktorin der Diakonie, Maria Katharina Moser, an: „Impfen ist eine persönliche Entscheidung, jede*r ist frei, der moralischen Impfpflicht nicht nachzukommen, muss aber die Folgen verantworten. Etwa zu erkranken, andere anzustecken, einen Lockdown zu verursachen, oder andere Mittel zum Infektionsschutz anzuwenden. Davon zu unterscheiden ist eine rechtliche Impfpflicht, die in jedem Fall aber auch ethisch gerechtfertigt werden müsse. Ein solcher Rechtfertigungsgrund könnte etwa der Schutz dritter sein.“ In dieser Diskussion sind wir jedenfalls im Kerngeschäft des Religions- und Ethikunterrichtes. Eine unbegründete Impfmuffelei oder ein fahrlässiges Nicht-Impfen entspricht sicherlich nicht den religiös-ethischen Ansprüchen der Nächstenliebe.

Gerade angesichts einer weiterhin noch viel zu niederen Impfquote spricht moraltheoretisch nichts gegen eine Impflicht. Im Gegenteil. Ich zitiere hier die Philosophin Sabine Söring: „Sich impfen zu lassen, sofern im individuellen Fall medizinisch nichts dagegenspricht, ist nicht nur Selbstschutz, sondern auch Fremdschutz. Wer sich impfen lässt, leistet seinen Beitrag zum Gemeinwohl. ​Gemeinwohl setzt Solidarität voraus. … Die wissenschaftliche Evidenz spricht dafür, dass wir eine hohe Impfquote zum Kampf gegen das Virus erreichen müssen, um unser aller grundlegendes Interesse an körperlicher Unversehrtheit für möglichst viele Mitglieder der Solidargemeinschaft erfüllen zu können – NoCovid ist ja offensichtlich nicht durchsetzbar. Aber die negativen externen Effekte meiner Impfverweigerung gehen weit über die gesundheitlichen Folgen für die, die ich infiziere, hinaus. Wird die erforderliche Impfquote nicht erreicht, drohen wieder viele weitere und weitreichendere Maßnahmen zur Eindämmung bis hin zu einem erneuten Lockdown. In der Waagschale der Güterabwägung liegen nicht nur noch mehr vermeidbare Corona-Tote und Long Covid-Patienten, sondern zum Beispiel auch Insolvenzen oder lebenslange Bildungsnachteile einer ganzen Generation von Schülern. Im Vergleich dazu ist der körperliche Schaden der Impfgegner aus der solidarischen Handlung wider Willen, also die Nebenwirkungen der Impfung, statistisch gesehen verschwindend gering.“

Gefährlichkeit von Covid-19-Infektionen

Ihre Argumente ähneln stark jenen der „Querdenker“. Covid wird auf eine Ebene mit Grippe gestellt. Maskentragen ist für Sie eine Schikane. Jetzt fehlt nur noch das Argument, dass Kinder wegen Maskenpflicht schon gestorben seien. Die Massengräber von Bergamo zu Beginn der Pandemie sind Wirklichkeit. Wirklichkeit ist: Tausende Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren, leiden Monate später an Symptomen wie Erschöpfung und eingeschränkter Leistungsfähigkeit. Hier könnten wir uns von vielen Beispielen aus dem Bekanntenkreis erzählen. Ich möchte auf eine Studie verweisen, auch wenn Sie dies wahrscheinlich ohnehin wieder nur als Lügenpropaganda qualifizieren: Demnach war fast jeder Dritte auch zwölf Monate nach einer Covid-19-Erkrankung noch kurzatmig, jeder Fünfte fühlte sich noch schlapp, mehr als jeder Vierte litt an Angststörungen oder Depressionen. Die häufigsten Beschwerden sind Atemnot, ein Druckgefühl auf dem Brustkorb und das Fatigue-Syndrom, also eine schwere Müdigkeit und schnelle Ermüdbarkeit im Alltag. Ist dies vergleichbar mit den Nachwirkungen einer Grippeinfektion?

Nützlichkeit von Covid-19-Vakzinen

Zu Ihrem Narrativ – gleich wie jenem der Querdenker & Co – zählt es, die Vakzine gegen Covid-19 schlechtzureden, dass sie unwirksam seien, dass dahinter nur Geschäftemacherei stecke und die Bevölkerung von den Regierungen für dumm verkauft würde. Nur eines der vielen Argumente sei angesprochen: Blicken wir nach Bulgarien. Die Durchimpfungsrate ist extrem niedrig. Die Zahl der Intensivstationen und Pflegebetten in den Krankenhäusern ist an der Kapazitätsgrenze und die Zahl der an Covid-Verstorbenen sehr hoch. Dass in ganz seltenen Fällen eine Impfung auch mit negativen medizinischen Reaktionen verbunden sein kann, möchte ich gar nicht leugnen. Allerdings gilt, was so viele Male geschrieben und festgestellt wurde: Jede Covid-Erkrankung ohne Impfung ist mit enorm hohen gesundheitlichen Risiken verbunden.

Untergrabung staatlicher Autoritäten

Gleichlautend mit dem Chef der FPÖ oder der Diktion der AfD oder der MFG verwenden Sie Begriffe wie „Regierungspropaganda“, wenn es um die Aufklärung der Bevölkerung bzgl. Impfung geht. Ihr Vergleich mit dem Dritten Reich ist wohl mehr als deplatziert. Gerade angesichts der Regierungskrise, in die unsere Republik aufgrund eines rücksichtslosen und korrupten Verhaltens geraten ist, betrachte ich Ihre Worte als demokratie- und staatsgefährdend. Parteipolitik hat hier nichts zu suchen. Es geht darum, dass Experten und Expertinnen aus dem Bereich der Medizin, der Epidemiologie oder Virologie, des Gesundheitswesens und der Kliniken und Krankenhäuser den bestmöglichen Weg aus der Pandemie vorgeben. Mit Greta Thunberg möchte ich auch in diesem Fall sagen: „Listen to the scientists!“ Im Unterricht ist es mir wichtig, dass Schülerinnen und Schüler Vertrauen in die Demokratie gewinnen und eine kritische Loyalität gegenüber staatlichen Entscheidungen und dem Rechtsstaat entwickeln.

Ceterum Censeo

Die vergangenen zwei Jahre haben mit Blick auf die Schule gezeigt, dass wir die Bedrohungen unseres Lebens ernst zu nehmen haben. Es ist nicht die Zeit, diese zu ignorieren, zu verharmlosen, den Kopf in den Sand zu stecken. Die Schule ist ein wichtiger Ort, um auch darüber im Gespräch zu sein. Von Sokrates bis Jesus Christus gilt wie in allen Religionen die Goldene Regel, die Eigenwohl und Gemeinwohl stets in einer Ausgewogenheit sehen möchte.

Ich bin gespannt, ob Sie meine Überlegungen nun erneut als „faschistisch zu bezeichnende Impfpropaganda“ verunglimpfen. Sie können darauf vertrauen, dass ich mich weiterhin bemühen werde, dem Zielparagraphen des Österreichischen Schulorganisationsgesetzes (§ 2 SchOG) zu entsprechen. Mein Dienst ist es daher, „an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.“ Ihre Aufforderung, die zentralen aktuellen und ethischen Grundthemen unserer Zeit nicht im Unterricht zu behandeln, darf ich daher gar nicht befolgen.

Klaus Heidegger

 

 

 

 

Kommentare

  1. Lieber Klaus, Gratulation zu deiner offenen Diskussion mit den Schülerinnen und zu deinen Gedanken! Die Impfung gegen Corona ist die einzige Möglichkeit, dass wir wieder zu unserer Normalität zurückkommen können, unsere sozialen Kontakte zu pflegen (ohne apres Ski in der erlebten Form), die Wirtschaft und der Handel funktioniert, ….Dazu braucht es gelebte Solidarität. Leider funktioniert dies bei Corona mit der Pandemiebekämpfung nur dann, wenn ca. 80% der Bevölkerung geimpft sind oder Corona durchgemacht haben. Dann kann man von einer Herdenimmunität sprechen. Was mich ärgert ist, dass wir solche Unmengen von Steuergeldern für so viele Testungen ausgeben, PCR-Tests und AG-Tests! Es gibt so viele falsch positive und auch falsch negative Ergebnisse und auch von Haus aus schlechte Testsysteme. Leider hat uns die Politik mit der Eigenverantwortlichkeit und der Angstmacherei ein wenig die Demokratie genommen. Darin sehe ich auch ein wenig die Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Impfzkeptiker. Corona ist für mich ein Gesundheitsthema und KEIN politisches Thema! Ich sehne mich zurück an die Zeit ohne Masken und vielen sozialen Kontakten! Dies ist erst durch die Herdenimmunität möglich, denn die Zahlen steigen immer wieder und mit Corona werden wir leben müssen, ob wir wollen oder nicht! LG Maria

    1. Liebe Maria, Danke für deine Expertin-Antwort. Wenn die Gesellschaft doch mehr auf solche Stimmen aus der medizinischen Praxis hören würde!

  2. Lieber Klaus,
    Du hast sehr gut argumentiert. Ich habe die Orginalpublikationen gelesenen, die die hohe Wirksamkeit zeigen. Letzten November ist die Klinik knapp an einem Chaos vorbeigeschaut und es wurde trainiert! Die ausreichende Verfügbarkeit von mehreren Impstoffen ist aus meiner Sicht ein Segen. Jetzt muss es das Ziel unserer Gesellschaft sein eine Herdenimmunität zu erreichen, damit hat das Virus kaum die Möglichkeit noch gefährlichere Neumutationen zu entwickeln und nicht unseren Alltag weiter zu beeinträchtigen. Regelmäßige Tests und Intensivpatienten kosten mehr Geld als eine Vollimmunisierung de Bevölkerung. Das Alter der Zulassung der Impfungen sinkt und wir meiner Meinung nach bereits im nächsten Jahr zu einer Zulassung im Säuglingsalter führen, dann wird als auch an Schulen nur mehr Tests für symptomatische Schüler benötigen. Letztlich wird jeder Nichtgeimpte an Corona erkranken und die Zahl von Long-Covid Patienten weiter steigen.
    LG Bernhard

    1. Lieber Bernhard! Deine Antwort ist für mich als Nicht-Mediziner sehr wichtig. Es ist gut, wenn Praktiker wie du und zugleich Ärzte mit sehr viel Erfahrung uns Lehrpersonen unterstützen in unserer Bildungsarbeit an den Schulen. Danke, Klaus

  3. Vorerst sind weder ein Immunitatsausweis noch eine Impfpflicht politisch durchsetzbar – obwohl beides sinnvoll und aus moralisch-ethischer Sicht vertretbar ware. Derzeit gibt es in der Gesellschaft zu viele Impfgegner. Wenn die Politik es aber schaffen wurde, hinreichend uber die Impfstoffe aufzuklaren, konnte sie differenziert vorgehen. Das hie?e: Geimpften Freiheiten geben, die sie Nicht-Geimpften verwehrt. Wenn ausreichend aufgeklart werden kann und das auch bei den Menschen ankommt, ist das aus moralisch-ethischer Sicht vertretbar.

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