Innsbruck-Paris mit Rad             

Wie man in Zeiten von Energiekrise und Erderhitzung und brennenden Wäldern reisen kann, ohne dabei ein Schamgefühl zu haben

Man kann von Innsbruck nach Paris mit dem Flugzeug fliegen. Das wären im besten Fall mit Umsteiglandungen in Wien – welch bedenklicher Umweg! – oder Frankfurt mindestens Bruttofahr-flugzeit sieben Stunden und gut 500 Euro an Kosten. Der ökologische Fußabdruck wäre riesig und man befeuerte das, was wir diesen Sommer besonders mitbekommen: die Erderhitzung als Folge des Klimawandels. Man kann von Innsbruck den Flixbus nehmen. Die Reise würde mit dem Direktbus 15 Stunden dauern und wird auf der einschlägigen Internetseite mit „umweltbewusst“ angeführt und ginge auf der allerkürzesten Route über 700 Kilometer und ließe sich zum Schnäppchenpreis von 150 Euro machen. Man könnte – wenn man digital versiert und geduldig ist – auch ein Bahnticket um rund 200 Euro erwerben und angenehm mit der Bahn nach Paris kommen, was mit den superschnellen Zügen wie TGV kaum länger dauerte als eine Flugreise. Man könnte auch, wenn man keine Autoscham hat, mit dem Auto hinfahren und die Öde von Autobahnen erleben und den Stress aufsaugen und enorm hohe Kosten von Spritpreisen und Autobahngebühren in Kauf nehmen und die Folgekosten von Lärm und Abgasen auf andere abwälzen. Angesichts der Hitze würde man dabei auch die Klimaanlage maximal beanspruchen und zusätzlich Treibstoffe verbrennen und Treibhausgase in die Atmosphäre schicken. Man. Meine sportliche Nichte hatte einen anderen Traum. Sie wollte die Strecke Innsbruck-Paris mit dem Rad fahren und fand in ihrem ebenfalls radsportbegeisterten Onkel einen Menschen, der nicht zweimal überlegen musste. Dieser Traum lebt ja auch irgendwie in ihm. Erst letzten Herbst hatten wir auf der Radfahrt Innsbruck-Rom unsere Langdistanz-Probe als Nichte-Onkel-Rennradteam bestanden und die Teilnahme am Dreiländer-Giro vor einem Monat bestätigte unsere aktuelle Fitness. Meine Nichte hat generationsbedingt und als AV-Tourenführerin einen versierten Umgang mit der Alpenvereins-App und die Strecke entsprechend in Etappen eingeteilt. Da werde ich ihr wieder gerne Windschatten geben und mich auf die Richtungshinweise von hinten verlassen dürfen. Wenn wirklich alles aufgeht, dann könnten wir die Strecke über den Arlberg nach Feldkirch weiter durch die Schweizer Voralpen nach Zürich und Basel und dann immer nordwestlich durch Frankreich bis Paris in 5 Tagesetappen auf rund 900 Kilometern und 8000 Höhenmetern schaffen.

Etappe 1: Von Innsbruck nach Feldkirch, Samstag 16. Juli 2022

1.1.0

Der offizielle Startpunkt um 6:30 Uhr ist der Domplatz von Innsbruck an jener Ecke, wo das Schild „JAKOBSWEG“ und das Schild „PILGERWEG“ auf einer der Mauern aus Höttinger Breccie angebracht ist. Tatsächlich werden wir auf der ersten Etappe entlang vom Jakobsweg fahren und uns wie Jakobspilger fühlen. Hier startete ich vor 4 Jahren mit meinem Sohn Jakob den Camino nach Santiago. Auch damals wurde der Jakobsdom renoviert und die Fassade war eingerüstet und ich schrieb, dass es ein Hoffnungssignal wäre für einen Umbau der Kirche, in der Geschlechtergerechtigkeit Wirklichkeit wird und die Kirche ganz zu ihren radikalen pazifistischen Ursprüngen der Jesusbewegung zurückfindet. Jetzt findet der Umbau im Inneren der diözesanen Hauptkirche statt und die Fassade des Bischofshauses ist seit kurzem in einem neuen künstlerischen Design. Wer genau hinsieht, kann auf der Fassade des Gebäudes aus dem 15. Jahrhundert die große Zahlenfolge 1.1.0 lesen, die sich über die drei Stockwerke bis zum Dachsims zieht. Der Tiroler Konzeptkünstler Martin Walde hat dieses Zahlenspiel als traditionelles Sgraffito ausgeführt. Tiefer- und höherliegende Putzflächen lassen die Zahlen hell aus dem dunkleren Hintergrund hervortreten. Was dahinter steckt, hat der Bischof, der hinter der Fassade zu finden ist, erst vor kurzem auf den Punkt gebracht: Die Zeitrechnung kenne ein Vor und Nach der Geburt Christi. Mit 1.1.0 erinnere das Bischofshaus an jene revolutionäre Persönlichkeit, die wie keine andere die Hoffnungsgeschichte der Menschheit geprägt hat. Das Datum sei ein indirekter Verweis auf die bleibende Bedeutung und Gegenwart Jesu Christi. Bischof Hermann und die Kirche, allen voran aber auch Papst Franziskus, haben mit dieser Zahlenfolge zugleich die wichtigste politische Aufgabe im Blick. Wenn Asylsuchende keine Geburtsurkunde oder persönlichen Dokumente vorweisen können, dann wird ihnen jeweils der 1. Jänner eines bestimmten Jahres zugeschrieben. Und noch eine dritte Botschaft steht hinter dem Statement 1.1.0, das mit dem historischen Gebäude zu tun hat. Hier befand sich im Parterre die erste Schule Innsbrucks, in der Kinder das Rechnen und Schreiben lernten.

Entlang des Tiroler Jakobsweges

Nachdem meine Nichte fachkundig noch meine Radtasche besser fixiert hatte, geht es los. Unser Gepäck haben wir auf ein absolutes Minimum beschränkt und lässt sich in einer hinteren größeren Satteltasche und einem kleinen Rucksack unterbringen. Viel schwerer wiegt freilich all das, was sich in den letzten Monaten in meiner Seele an Gefühlen angesammelt hat, was in meinem Kopf an Gedanken ist und in meinem Herzen an diversen Hoffnungen schlägt. Das lässt sich nicht einfach kleinpressen. Die ersten Sonnenstrahlen lassen den Stadtturm mit seiner grünen Haube hellgelborange erleuchten. Es wird ein schöner und heißer Sommertag. Die Straßen sind nass von der Putzmaschine. Noch sind die Touristenshops der Altstadt geschlossen und die Tische und Stühle der Gastronomie stehen nicht auf den Gassen und Straßen. Um diese verschlafene Zeit mag ich die Altstadt mit ihren bunten Renaissance-Häusern und den Geschichten, die meine Seele damit verbinden: den wöchentlichen Schweigekreisen für den Frieden vor dem Goldenen Dachl während der Studentenzeit, der Erinnerung an den Pazifisten Jakob Huter, für den ich ein kurzes Theaterstück schrieb, das an diesem Platz, an dem er verbrannt worden war, aufgeführt wurde. Hier gab es auch die großen Kundgebungen gegen den Krieg in der Ukraine, der bald fünf Monate wütet. Das Morden und Zerstören gehen weiter und die Antikriegsbewegung ist sehr still geworden. Ich spüre auch mein schlechtes Gewissen dabei. Die ersten Meter unserer langen Reise gehen vorbei an der neugestalteten Innbrücke – zum Glück sind die Streifen für die Fußgänger:innen und Radfahrer:innen nun viel breiter geworden. Der Pegel des Inns ist seit Wochen sehr hoch. Meine geliebten Gletscher schmelzen!

Radfahren als Meditation in die Tiefe

Meine Gedanken und Gefühle kreisen wie die Radkurbel und drehen sich wie die Laufräder. Es stimmt nicht, wenn irgendwer behauptete, man könne beim Radfahren von sich selbst davonlaufen. Im Gegenteil. Das stundenlange Radfahren – bei dem sehr wenig geredet wird – ist wie Meditation, in der nichts verdrängt werden kann, sondern das Fahren ist ein Geschehen, das tief nach Innen führt. Dies geschieht bei mir besonders dann, wenn ich – wie bei der heutigen Tagesetappe – fast jede Kurve kenne und Orte aufgeladen sind mit persönlicher Geschichte, sei es eine vergangene Fahrt mit einem meiner Kinder durch das Oberland – hier habe ich einmal eine Jause gemacht, dort habe ich einen Patschen geflickt, hier bekam ich gerade einen Anruf, der mich betrübte, dort hatte ich starken Gegenwind und war nach langer Tour im Hungerast usw. usf. Bis Silz fahren wir auf der Bundesstraße, wo um diese Uhrzeit ohnehin kaum Verkehr ist. Etwas haben wir Gegenwind. In Silz biegen wir bei einem Brunnen dann auf den Inntal-Radweg, der von hier bis Landeck wohl einen der schönsten Streckenabschnitte bietet. Es geht durch die Oberinntaler-Obstbaumgärten vorbei an der Geierwand, mit der wir Klettererlebnisse aus jüngster Zeit verbinden. Auf die Fahrt durch den Föhrenwald bei Ötztal-Bahnhof und dann durch die Imster Schlucht freue ich mich ohnehin immer. Den geplanten Stopp in Landeck lassen wir aus und fahren gleich weiter bis nach St. Jakob am Arlberg. Der Massenverkehr ist ohnehin auf der Schnellstraße und belästigt nicht die Radfahrenden. Mit Wehmut stelle ich fest, wie winzig klein und aper der Gletscher am Hohen Riffler geworden ist. Lange wird es ihn wohl nicht mehr geben. Die Samstagssirene schrillt; die Glocken der Jakobskirche läuten; 100 Kilometer sind hinter uns. Rast vor dem Anstieg zur Arlberger Passhöhe auf den Stufen zum dortigen M-Preis, den ich mit einer Geschichte aus meinem früheren Leben verbinde.

Als ich zuletzt über den Arlberg fuhr, regnete es und auf der Passhöhe lag Schnee. Heute ist es heiß. Der Verkehr ist nicht schlimm. St. Christoph ist schnell erreicht. Berggefühl trotz Straße. Wir brauchen keine Windjacken und genießen die lange, schnelle Abfahrt durch das Klostertal bis Bludenz. Etwas bremst der Gegenwind. Bei meinen Verwandten in Bludenz machen wir einen kurzen Stopp. Sie freuen sich sehr über den Überraschungsbesuch und wir trinken dort Kaffee und ich pflücke die Mirabellen vom prallvollen Baum als Jause. Weiter geht es durch den Walgau auf dem schönen Radweg entlang der Auwälder und Seen, wo man gar nicht merkt, wie verbaut eigentlich das ganze Land ist. Mit den Kapuzinerpatres hatte ich ausgemacht, dass wir um 17.00 da sein werden. Wir schaffen es punktgenau und werden gastfreundlich aufgenommen und dürfen im Pilgerzimmer übernachten. Ich blättere zurück im Pilgerbuch und sehe den Eintrag, den Jakob und ich am 8. Juli 2018 gemacht hatten.

Ende der 1. Etappe in Feldkirch

Die Pizza in einem Gastgarten in der Altstadt und das Bier schmecken an diesem Tag nach 186 Kilometern und 1790 Höhenmetern besonders gut. Das wichtigste bei jeder Reise sind mir immer die zufälligen Begegnungen mit Menschen, wie mit jener Frau mit leichtem Down-Syndrom, die uns liebevoll den Weg zum Sutterlüty-Shop erklärte und uns dabei auch noch am liebsten die ganze Geschichte rund um das Einkaufen bei Sutterlüty hinzugefügt hätte. Der Kapuzinerpater war da schon weniger gesprächig. Dabei hätte ich mit ihm gerne über die Geschichte des Klosters geredet und vor allem über den Heiligen, mit dem dieses Kloster verknüpft ist.

Im Kloster des Heiligen Fidelis

Das Haupt vom Heiligen Fidelis wird in einer eigenen Klosterkapelle im Tabernakel aufbewahrt. Darüber sind Holzstatuen, die zeigen, wie er in Märtyrerhaltung von zwei Männern erschlagen wird. Es war das Jahr 1622. Fidelis von Sindelfingen. Er war ein gebildeter Kapuzinerpater, dem die Reform der Kirche ein großes Anliegen war. Hatte er sich aber von der militärisch und gewaltsam geführten Gegenreformation auch genügend abgegrenzt? Wollte er zu sehr die Anhänger Calvins und Zwinglis zum katholischen Glauben „bekehren“, anstatt Brücken zu bauen? Müde vom dunklen Fohrenberger Bier und der Radetappe lässt mich die Geschichte des Hl. Fidelis nicht los und ich lese im Kloster, in dem er Guardian war und unweit seiner Reliquien – analog – in der digitalen Welt seine Vita von Markus Hofer und bleibe bei einem Satz hängen: „Wenn uns sein Leben heute etwas lehrt, dann ist es nicht zuletzt gerade die Tatsache, dass es mühevoll sein kann, mit Widersprüchen und Brüchen zu leben, diese auszuhalten, ohne vorschnell urteilen zu wollen. Daran ist Fidelis letztlich selber zerbrochen.“ Markus Hofer hat als jemand, der sich mit männlicher Spiritualität viel auseinandergesetzt hat, auch einen kritisch-differenzierten Blick, wo gerade die Widersprüchlichkeit von Heiligenfiguren uns helfen kann, den richtigen Weg zu finden. So schreibt er: „War es Heroismus oder Arbeitssucht? Und wie wäre das immer so genau auseinanderzuhalten? Umgekehrt zeigt diese Dynamik vielleicht auf, dass das Maximum nicht immer das Optimum sein muss, dass weniger auch mehr sein könnte. Denn nicht zuletzt führte gerade dieser Zug des Fidelis auch zu seinem tragischen Ende.“ Aus lutherischer Sicht müsste auch daran erinnert werden, dass Fidelis nicht unbeteiligt war an Inquisitionsprozessen, in der beispielsweise eine Anhängerin Luthers als Ketzerin gebrandmarkt aus Feldkirch vertrieben worden war. Der Kapuzinerpater Fidelis ist jedenfalls wie ein Guckloch in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, in die Fallstricke einer Zeit, wo sich kirchliche Interessen oft fatal mit weltlichen Machtgelüsten verbanden und der Anspruch des gewaltfreien Jesus von Nazareth verraten wurde. Markus Hofer dazu: „Die Auseinandersetzungen wurden oft sehr grausam und rücksichtslos betrieben mit blutrünstigen Akten sowohl auf katholischer wie reformierter Seite. Vermutlich steht es uns heute nicht mehr an, die einzelnen Kerbhölzer im Detail zu vergleichen.“ Trotz meiner längeren Leserei komme ich auf mehr Stunden Schlaf – vier bis fünf gönnte sich Fidelis – und noch etwas erschrocken von einem Alptraum läutet um 4.15 Uhr der Wecker des Smartphones. Nein, ich träumte nicht vom Haupt des Fidelis und der linken Hand, die sich in der nahen Fideliskapelle befinden, auch nicht von Inquisitionsprozessen und von Kämpfen während des Dreißigjährigen Krieges.

Tag 2: Von Feldkirch nach Basel: der Schweizer Teil

Sonntagsstimmung. Halb fünf Uhr morgens geht der Wecker. Wir frühstücken in einer Stube in Pfortennähe. Um halb sechs, als wir losfahren, wird es gerade hell. Noch ist nichts los auf den Straßen. Vorbei geht es an der Pfarrkirche und dem Pfarramt von Tisis, wo ich oft bei einem priesterlichen Freund sein konnte. Wäre er nicht im Urlaub, hätten wir bei ihm übernachten können. Aber dann wäre es halt ohne Fidelis gewesen. Das Zollamt zum Zwergstaat Liechtenstein ist schnell erreicht. Kontrollen gibt es keine. Die Sonne geht gerade auf, als wir über den Rhein in die Schweiz fahren. Es wartet eine 700 Höhenmeter-Steigung auf uns, die um diese Uhrzeit und mit den Panoramablicken im Norden zu den steilen Flanken des Säntis und im Süden zu den Gipfeln des Rätikon angenehm zu fahren ist. Die Abfahrt hinunter zum Ostteil des Zürichsees ist dann richtig frisch. Nun geht es entlang des Sees nach Rapperswil. Wir fahren die Fußgängerzone hinauf zur mächtigen Burg, an die eine romanisch-gotische Kathedrale gebaut ist. Gerade läuten die Sonntagsglocken. Von oben können wir auf den mittelalterlichen Stadtplatz hinunterblicken. Die Gegenwart ist entlang des Sees zu spüren: Hier gibt es viele Rennradfahrer:innen. Manche sind mit ihren Triathlon-Zeitmaschinen unterwegs, so als würden sie alle für den Züricher Ironman trainieren. An den Südhängen zum Ufer hin sind Weinberge. Meist gibt es bis Zürich, das heißt bis zum Westufer, einen Radstreifen. Es wird wieder mittags, bis wir nach Zürich kommen. 100 Kilometer sind hinter uns. Ich grüße jetzt eine Statue von Zwingli vor einer der helvetisch-reformierten Kirche – ein Ausgleich zu Fidelis. Die touristischen Hotspots lassen sich mit Rennrädern schnell erreichen. Im Hauptbahnhof schaue ich hinauf zum riesigen Engel von Niki de Saint-Phalle. Möge uns der Engel Raphael tatsächlich auf unserer Reise beschützen! Panoramablicke erwischen wir bei der Fahrt über die Brücken. In der Limmat suchen heute viele Abkühlung. Wir radeln weiter möglichst gerade Linie Richtung Basel. Dabei fahren wir an eindrucksvollen Städtchen mit mittelalterlichen Stadtbildern vorbei. Kurz vor Basel wechseln wir für die Suche nach einer Unterkunft nach Deutschland auf die Nordseite des Rhein und wir werden auch gleich fündig. Ein Schild bei einem einfachen China-Restaurant hat ein „ZIMMER FREI“-Schild und so können wir nach der Tagesetappe von 189 Kilometern und 1801 Höhenmetern einen Ort finden, wo es alles Notwendige für den Tag gibt: Dusche, Bier, Fastenspeise und Bett.

Tag 3: Von Basel nach Corré: Es wird heiß in Frankreich

Frühstückslos beginnen wir noch im Dunkeln die Fahrt hinein nach Basel. Wir haben Stirnlampen und blinkende Rücklichter. Trotzdem ist es nicht angenehm, wenn auf einer engen Landstraße mächtige Laster an uns vorbeidonnern. Aber bis Basel ist nicht weit. Die Stadt schläft noch. Schweizer Preise in einem Kaffee, das um 6.00 Uhr öffnet. Über den Häusern der Stadt am Rhein geht die Sonne auf. Das rote Rathaus leuchtet im Morgenlicht noch roter. Herausfordernd wird dann die Suche einer passenden Straße nach Frankreich. Die Wegweiser nach Saint Luis sind verführerisch. Die Straße mit dem parallelen Radweg endet beim dortigen Flughafen, wo es kein Weiterkommen gibt. Kein Weiterkommen in den überdimensionierten Anlagen des Flughafens. Symbolisch passender könnte es wohl nicht sein. Nun also wieder hinein in die Stadt und von dort finden wir dann den passenden Weg. Ab Frankreich wird die Route dann ohnehin in sich logisch. Es geht durch die südlichen Ausläufer des Elsass. Viele der Ortsnamen sind auf Deutsch. Altkirch zum Beispiel. Die kleinen Dörfer sind geprägt von bunten Fachwerkhäusern. Um Mittag herum fahren wir durch ein Tor der mächtigen Festungsmauern von Belfort. Vor der Kathedrale spielen Kinder in einem Sandplatz, der einem Sandstrand nachgemacht ist – mit Liegestühlen und Sonnenschirmen. Auch wir machen Rast dort, umgeben von Sandplatz, Kathedrale, Rathaus und vor allem der mächtigen Zitadelle im Hintergrund, die von Zeiten erzählen, als Herrscher versuchten, andere Völker und Länder zu ihren zu machen, und andere Herrscher versuchten, sich vor solchen Herren zu schützen. Wie wenig hat sich doch in den letzten Jahrhunderten verändert. Die Logiken von Gewalt und Gegengewalt und von Sicherheit durch Abschreckung sind geblieben, nur die Mittel haben sich verändert. Auf der Landstraße am Fuß der Vogesen ist kaum Verkehr. In dieser Gegend mit den typischen französischen Dörfern und den ebenerdigen Steinhäusern – viele sind verlassen – kommt Tour-de-France-Feeling auf. Ganz überraschend entdecke ich, dass unsere Route die weltberühmte Kirche Notre-Dame-du-Haut von Le Corbusier liegt. Ich sehe ihre weißen Wände schon von weitem auf einem Hügel, den ich dann tatsächlich bei glühender Hitze hinauf trete. Leider war der Blick auf die Kirche dann oben verdeckt durch Gebäude, Abzäunungen und ein Gerüst. Weiter geht es durch die so typischen Landschaften. In den Ortsdurchfahrten wird die Hitze besonders spürbar. Ein Thermometer bei einer Pharmazie zeigt 42 Grad an. Unser Glück ist wiederum die Unterkunft in einem Appartement, das in einem Bauernhof in der kleinen Ortschaft Corre eingerichtet ist. Ein idealer Stopp für unsere Unterkunft. Verpflegung besorge ich uns im nahen Supermarkt. Die Temperatur dort fühlt sich im Vergleich zur kochenden Außentemperatur wie ein Kühlhalle an. Ich finde dort auch ein typisch französisches dunkles Bier in den großen Flaschen mit Korkenverschluss. 179 Kilometer und 1538 Höhenmeter waren es heute.

Tag 4: Von Corre nach Troyes: Heiß bis zum Siedepunkt

Heute haben wir den Luxus eines Frühstücks um 6.00 Uhr in der Stube der Bauersfrau-Appartementvermieterin oder was sonst noch. Daher kommen wir um 6.30 Uhr erst weg. Ich habe keine Angst vor der Hitze und vermittle Zuversicht, dass wir die Tagesetappe schaffen werden und motiviere meine Begleiterin. Zum Glück weht der Wind kräftig von hinten, der sich im Laufe des Tages wie ein Wind aus einem Riesenföhn anfühlt. Die Straßen sind verkehrsarm und oftmals kerzengerade über viele Kilometer, links und rechts von den Straßen, die wellenförmig über die Landschaft gleiten, abgeerntete Weizenfelder oder Sonnenblumenfelder, manchmal alte verrostete Windräder, mit denen in früheren Zeiten Grundwasser gepumpt worden ist. Stellenweise wird der schwarze Asphalt auf der im rötlich gefärbten Asphalt der Straßen schon weich. Es ist erst 9.30 Uhr, als wir in der historisch bedeutsamen Stadt Chaumont sind. Hier wurden Friedensverträge unterzeichnet, hier war auch Napoleon auf seinen Herrschaftszügen. Im Schatten eines Jesuitenkollegs aus dem 17. Jahrhundert und gestärkt von viel Flüssigkeit aus einem kleinen Supermarkt hören wir über die Straßenlautsprecher eine offizielle Botschaft. Es würde sehr heiß werden, über 40 Grad, und man solle viel Wasser trinken und Ruhe suchen. So weit reichen noch meine Französischkenntnisse. Ich wüsste es aber auch ohne diese Durchsage und das Wort „Ruhe“ gilt für uns nicht. Weiter hinaus in die Hitze. Unser Ziel ist noch gut 100 Kilometer entfernt. In vielen Ortschaften wird schon sichtbar, dass hier in ein paar Tagen die Tour de France der Frauen durchgehen wird. Zebrastreifen sind in den Farben der führenden Trikots gestrichen, weiß, rot-weiß-gepunktet, gelb und grün. Immer wieder füllen wir unsere Wasserbehälter nach. Einmal kommen wir zu einem Brunnen und schütten Wasser über uns. Eine Flasche wird nun gefüllt, um uns weitere Duschen zu geben, weil das zuerst klatschnasse T-Shirt schon bald wieder von der Hitze und dem heißen Wind trocken wird. Wir machen nun im Schatten öfters Pausen und fahren moderat die Steigungen hinauf. Da ist sogar einmal Zeit, um zu einer der vielen alten Kirchen zu gehen. Quietschend öffne ich das Tor zum Friedhof. Der Griff fühlt sich knall heiß an. Die Kirche dürfte auch aus dem 13. Jahrhundert sein. Geöffnet ist sie nicht. Das bin ich auch längst nicht mehr erwartet. Kurz danach fahre ich mir einen Dorn ein und die Luft geht aus. Schlauchwechsel, den wir zum Glück im Schatten von Bäumen machen können. Wir haben keinen Stress. Das Etappenziel ist nicht mehr weit. Nach diesem heißen Tag werden wir dann mit einer interessanten Stadt „belohnt“. Sie ist weit größer als vermutet. Es ist die alte Hauptstadt der Champagne. Die große Altstadt wird gebildet aus Fachwerkhäusern aus der Renaissance-Zeit. Obwohl die Stadt wunderschön ist, sind fast keine Touristinnen und Touristen hier. In dem Lokal, in dem wir Pizza essen und Bier trinken sind wir fast alleine im Gastgarten zwischen den Fachwerkhäusern. Das Eis schlecken wir vor einer der vielen Kathedralen aus dem 12. Jahrhundert dieser Stadt. Die untergehende Sonne lässt die Westfassade goldgelb erstrahlen und noch besser die schöne gotische Struktur erkennen. Die Räder, die uns heute über 179 Hitzekilometer und 1560 Höhenmeter brachte, stellen wir in unser Zimmer eines B&B-Hotels.

Tag 5: Troyes nach Paris: Die Regenetappe von der Einsamkeit der Landschaften in die Hektik einer Metropole

Heute werden wir das Ziel erreichen. 5.29 Uhr – also wieder im Dunkeln und ohne Frühstück – fahren wir bereits im Regen los. Das halbe Baguette vom Vortag esse ich während des Fahrens. Kaffee gibt es in einem kleinen Ort, der – wie die meisten Orte in der Provinz – aus vielen verlassenen Häusern besteht. Gut also, dass es noch dieses Kaffee gibt. Was die Abwanderung aus den Dörfern betrifft, können wir auf unserer Fahrt schon den 3. Tag erleben. Kurze Wegstrecken gibt es auch, wo wir die Landstraße mit Lastautos teilen, die meist rücksichtsvoll überholen und zum Glück sind die Straßen fast immer breit genug. Nur in den Ortschaften verengen sie sich – aber da sind wir ohnehin so schnell wie die Laster. In einer überdachten Einfahrt in einem der Dörfer machen wir eine kurze Pause mit den Lebensmitteln, die ich in einem Geschäft ebendort erwarb: und es hätte mich gewundert, wenn ich nicht der einzige Kunde gewesen wäre. Irgendwo fahren wir bei einem Atomkraftwerk vorbei, das an der Seine liegt. Meine Gedanken kreisen um das Thema AKW, während die Räder über den nassen Asphalt kreisen. Fast 70 Prozent der Energie Frankreichs kommen aus AKWs – und angesichts der momentanen Energiekrise wird nicht nur Frankreich noch mehr auf Atomenergie setzen. Ich denke an meine eigene Geschichte in der Anti-AKW-Bewegung. Paris rückt immer näher. Es beginnen die ersten Vorstädte. Schwarz ist hier die dominierende Hautfarbe. Schließlich finden wir den Radweg, der entlang der Seine in die Stadt hineinführt. Die Sehenswürdigkeiten sind nun aufgereiht wie von einem Werbeprospekt für einen Parisurlaub. Hochmoderne Glastürme mit schräger Architektur, die eingerüsteten Türme der Kathedrale von Notre Dame, Louvre, … es ist interessant, Paris einmal aus der Fahrradperspektive zu erleben. Als Endpunkt der Reise hat sich meine Nichte, die erstmals nach Paris kommt, den Eifelturm ausgewählt. Als wir dort ankommen, ist der Park vor dem Turm voller Menschen. Dann kommt ein Regenguss und plötzlich ist der Platz fast menschenleer. Uns stört der Regen nicht mehr. An die Nässe haben wir uns schon den ganzen Tag gewöhnt. So können wir den Platz fast allein für uns genießen. Ziel erreicht. Als Draufgabe gibt es aber dann doch noch eine kräftige Radrundfahrt durch Paris. Spannend ist die Umkreisung des Arc de Triomphe. Fünfspurig sausen da die Autos, Motorräder und Busse herum, hinein in die Mitte und wieder hinaus in eine der sternförmig angelegten Straßenzüge. Irgendwie funktioniert dieses Treiben. Es ist wie ein Blick auf einen Ameisenhaufen. Hinunter fahren wir dann die Champs-Élyseés, vorbei am Élysée-Palast. Unser Ziel ist die Gegend um den Ostbahnhof. Die Strategie, um in diesem Verkehrsgetümmel zu überleben und zugleich weiterzukommen, lautet: Einfach drauflos. Die Vermutung, in Bahnhofsnähe ein günstiges Hotel zu finden, wo das Personal nicht verwundert schaut über zwei Menschen, die nicht mit Rollkoffern, sondern mit Fahrrädern und etwas durchnässt kommen, wird schnell bestätigt. Glück gehabt. Auch eine Pizzeria ist in der Nähe und das dunkle Bier schmeckt heute besonders gut.

Mein Garmin zeigt am Ende des Tages nochmals 178 Kilometer und 1332 Höhenmeter. Insgesamt waren wir nun von Innsbruck aus 909 Kilometer und 8200 Höhenmeter unterwegs. Manche Ziele lassen sich erreichen, wenn „Kopf“ und „Körper“ mitspielen. Viele Ziele lassen sich in einem Team erreichen, wo aufeinander geschaut wird. Das Glück freilich wird immer etwas sein, das gnadenhaft geschenkt wird.

 

Kommentare

  1. Lieber Klaus, „der ane kummt noch Paris, der andre kummt nicht noch Paris, wie des Leben hoit so ist“, sang Josef Hader (https://www.youtube.com/watch?v=oEb96x6qF7c) einst. Du bist „der ane“, und ich gratuliere dir (und deiner sportlichen Nichte) zu eurer Tour. War spannend nachzulesen und schürt meinen alten Plan, einmal (per E-Bike) von Paris nach Wien zu radeln. Aber Ende des Sommers erst mal den Rhein entlang (mit Beginn Feldkirch-Basel) bis zur Mündung in die Nordsee. Mit Etappen zwischen 80 und 105km – denn ich will an den Stationen möglichst viel sehen (und mein Hintern hält 200km-Etappen wohl nicht so gut aus wie deiner;-) … Freu mich auf ein Wiedersehen, wann auch immer. Robert

    1. Lieber Robert, Danke für deine Rückmeldung. Deine geplante Reise klingt ja auch sehr spannend. Wann fährst du? Wirst du immer möglichst exakt dem Rhein entlang fahren? Lg., Klaus

  2. Unglaublich schön wie du uns Lesende teilhaben lässt an eurem genialen, emotionalen u heuer besonders fordernden -aufgrund globaler Entwicklungen- Roadtrip ! Ich folge dir gern – hoffe ich bin fit für den Watzmann, laboriere schon die 3. Woche an einem Infekt.
    Ein lieber Gruß Karin

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