Tag 2: Im genauen Hinsehen auf das Kleine das Große erahnen und erfassen

Samstag, 2. Juli 2022

Vom blechernen Bungalow aus mit der Ikea-Einrichtung habe ich einen Blick auf die kleine Bucht. Sie liegt am Ende der sorrentinischen Halbinsel, die auf ihrer Südseite den Golf von Salerno begrenzt und auf der anderen Seite den Golf von Neapel. Blickte ich von einem Flugzeug aus auf diese Gegend, so sähe sie aus wie ein Rufzeichen, das aus der italienischen Halbinsel herausragt und dessen Punkt die Insel Capri ist. In der Bucht schaukeln weit mehr als 50 Motorboote. Ambitioniertes Schwimmen ist nur im Slalomstil möglich und macht auch so weder sonderlich Spaß noch Sinn. Was anderes ist für den heutigen Tag angesagt: Die Meereswelt schnorchelnd zu erfassen. Der Seminarraum ist in Strandnähe unter einer Plane. Der Meeresbiologe schafft es, sich perfekt auf die Schülerinnen und Schüler einzulassen und mit ihnen an den Grundlagen zur Meeresbiologie vom Mittelmeer zu arbeiten. Ich komme mir eher wie ein braves Hirtenhündchen vor, das die Schülerinnen und Schüler bei ihren Schnorcheleinheiten begleitet. Dabei lasse ich mich selbst von der Meeresfauna faszinieren. Selbst die kleinen Fische wirken groß in der Unterwasserwelt. 90 Prozent der Fischarten sind im Mittelmeer vom Aussterben bedroht, denke ich mir, während ich den kleinen Fischen hinterher schwimme. Am Nachmittag werden dann in vier unterschiedlichen Gruppen Meerestiere herausgefischt, um sie dann zu bestimmen und mit einer Vergrößerungskamera im kleinen Detail zu betrachten. Auch wenn ich vieles schon hörte – wie bei der letzten meeresbiologischen Projektwoche auf Krk, die ich begleitete – staune ich immer wieder erneut über die Perfektion, mit der alle Lebewesen ausgestattet sind, um zu leben und zu überleben. Die Tierwelt – und gerade die kleinsten und schwächsten unter den Tieren – schafft es, ohne dass sie dabei andere ausbeuten. Sie leben mit eigener Energie, angepasst an die Umwelt, die sie nicht zerstören. Der homo sapiens zerstört seine Umwelt, auf deren Kosten er lebt. Er ist ökologisch gesehen wohl so ziemlich das dümmste Lebewesen. In der Bucht schaukelt wie zur Bestätigung eine Jacht, in der wieder einmal irgendwelche Reiche ihr Geltungsbedürfnis zur Schau stellen. Mehrmals erinnerte der Meeresbiologe die Schülerinnen und Schüler heute, achtsam mit der Tierwelt zu sein. Wir sollen schon bis zum Strand im seichten Wasser schwimmen und nicht gehen, um die Tierhabitate nicht zu stören; Tiere, die zur Untersuchung gefangen werden, sollen behutsam transportiert werden – und natürlich werden sie am Ende wieder ins Wasser gesetzt; Steine, die aufgehoben werden, um etwa darunter Krebse oder andere Tiere zu entdecken, sollen sorgsam wieder zurückgelegt werden. Was die Schülerinnen und Schüler hier lernen, ist eine Lektion für das Leben. Das Mittelmeer ist ein so kostbares Ökosystem, zu schade dass es im Massentourismus der Gegenwart zerstört wird.