Kritische Dekonstruktion von religiösen Bildern und Vorstellungen zu Allerheiligen und Allerseelen

Eine klischeegeladene Allerheiligenpredigt als Ausgangspunkt meines Nachdenkens

Allerheiligenerlebnis 2025: Föhn bläst vom Süden über den Friedhof meines ursprünglichen Heimatortes. Menschengruppen sind wie jedes Jahr an diesem Tag und um diese Zeit um ihre Gräber versammelt. Ich höre die Predigt eines mir nicht bekannten Zeremoniärs. Er versucht krampfhaft, Worte zu finden für die Wirklichkeit, die hinter dem Hochfest von Allerheiligen stehen könnte. Dabei bedient er sich der bekannten oberflächlichen Klischees. Christen würden zum Unterschied von den „Hinduisten“ – er nennt sie nicht korrekt „Hindus“ – und zum Unterschied von den Buddhisten nicht an die Wiedergeburt glauben, sondern an die Erlösung durch Jesus Christus, der allen ein ewiges Leben im Himmel ermögliche. Die Wiedergeburts- bzw. Reinkarnationslehre wird so primitiv karikiert, dass die christliche Lehre demgegenüber ein plausibles und unhinterfragtes Konstrukt ist. Meine Gedanken gehen zum großflächigen Ölgemälde im linken Seitenaltar der Pfarrkirche. Der Erzengel Michael stößt mit einer langen Lanze den gefallenen Engel und mit ihm wohl alle Bösewichte in das Feuer der Hölle. Eine nicht minder grausame Darstellung des Fegefeuers mit Menschen, die am lebendigen Leibe gebraten und von teuflischen Fratzen gequält werden, findet sich in der gotischen Friedhofskapelle nebenan. Mit solchen Bildern kann keine Gruseldarstellung von Halloween mithalten. Da ist mir jedenfalls die philosophische Lehre der Upanishaden im Hinduismus oder des Pali-Kanon im Buddhismus über Reinkarnation bzw. Nirwana wesentlich näher – und im tiefsten erkenne ich nicht die Unterschiede zu meinen eigenen vom Christentum geprägten Erfahrungen.

Das Jenseitige im Diesseitigen, das Diesseitige im Jenseitigen: Interreligiöser Blickwinkel

Ein erster oberflächlicher Blick auf Jenseitsvorstellungen der Weltreligionen könnte tatsächlich die Vermutung nahelegen, wie verschieden sie doch sind. Meist sind wir geneigt, Unterscheidendes und Trennendes stärker wahrzunehmen als das Gemeinsame. Vermittelt wurde und wird beispielsweise eine plumpe Darstellung des hinduistischen Reinkarnationsglaubens.  In sehr vereinfachter Form wird das christliche Auferstehungsmodell als richtig und der Reinkarnationsglaube als falsch dargestellt. Hartnäckig halten sich primitive Vorstellungen wie jene, dass bei der Wiedergeburt laut hinduistischer Vorstellung ein Mensch in eine Kröte oder selbst in eine Pflanze verwandelt werden könnte. Aber auch im christlichen Bereich hat sich die mittelalterliche Bilderwelt von Himmel-Hölle-Fegefeuer und eines entsprechend individualistischen Heilsweges verbunden mit einem drohend-strafenden Gott als dominantes Über-Ich stark in der Vorstellungskraft festgekrallt. Das ist mit ein Grund, warum etliche dann – ohne den Gehalt dieser Bilder zu überprüfen – sich von Kirche und Christentum überhaupt abwenden. Der erste Schritt bestünde nun darin, in die Schule der Aufklärung zu gehen und die tradierte und meist unreflektiert übernommene eschatologische bzw. apokalyptische Bilderwelt einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Ewigkeit ist nicht Zeitstrecke, sondern Kreis

Der erste Denkfehler besteht darin, sich das ewige Leben in Form einer Zeitstrecke vorzustellen. Wenn der Prediger beim Allerheiligengottesdienst meinte, dass mit dem Tod die Ewigkeit beginne, dann ist das philosophisch betrachtet schlichtweg falsch. Ewigkeit ist immer schon. Der Begriff „Ewigkeit“ lässt sich nicht mit einer linearen Strecke darstellen, die einen fixen Anfang hat. Etwas, das einmal begonnen hat, kann nicht ewig sein, sonst wäre es nicht ewig. Symbol für Ewigkeit ist der Kreis oder ein Unendlichkeitszeichen. Damit freilich ist ein Auseinanderdividieren von Diesseits und Jenseits gar nicht mehr möglich. Das diesseitige Sein ist im jenseitigen Sein, das jenseitige Sein ist im diesseitigen Sein geborgen. Die Religionen heben in ihren eschatologischen Vorstellungen eine falsche Dichotomie auf. Dies zeigt sich auch in der Art und Weise, wie das Volk Israel sein Heil definierte und wie in dieser Tradition Jesus seine Reich-Gottes-Botschaft lebt und verkündet. So beginnt auch die Hebräische Bibel mit den Worten „Im Anfang …“ und nicht „am Anfang“ und später heißt es wieder im Johannesevangelium „im Anfang war der Logos“. Es ist ein Anfang, der immer schon ist und gewesen ist und sein wird aber letztlich seine Wirkkraft immer im Augenblick des Seins entfaltet, wobei jeder Augenblick selbst und jede Gegenwärtigkeit auch schon in sich Vergänglichkeit birgt.

Eschatologisches Denken ist herrschaftskritisch

In den Evangelien sind es nur wenige Stellen, die ausdrücklich die klassische Jenseitsfrage thematisieren. Bezeichnend ist die Perikope Lukas 20,27-38. Wir finden sie in allen drei synoptischen Evangelien fast gleichlautend. Dieses Faktum unterstreicht die Bedeutsamkeit der Stelle. Die Sadduzäer wollen Jesus bloßstellen. Ein erster wichtiger Schlüssel zum Verständnis dieser Perikope liegt in der sozial-historischen und materialistischen Exegese. Wir müssen uns vergegenwärtigen, wer die Sadduzäer waren. Der Blick auf ihre soziale Rolle verdeutlicht, warum sie die Auferstehung leugneten und Jesus mit dieser Frage konfrontierten. Der römische Schriftsteller Flavius Josephus charakterisierte die Sadduzäer mit den Worten: „Sie lassen die Seele mit dem Körper zugrunde gehen.“ Es gab für diese Herrschaftsgruppe keine anderen Vorschriften als das Gesetz. Sie waren konservativ, wollten das herrschende System bewahren und ihre Privilegien festschreiben. Jesus jedoch wollte Veränderung. Warum leugnen also die Sadduzäer die Auferstehung? Sie sind die Herrschenden, die Mächtigen, jene mit viel Besitz und Einfluss. Eine „Auferstehung“, wie sie die Reich-Gottes-Botschaft Jesu als Befreiungsbotschaft im Hier und Heute verlangt, setzt ihre Stellung in Frage. M.a.W.: Für die Sadduzäer ist es bequem, nicht an Auferstehung zu glauben. So können sie weiter herrschen wie bisher. Anders Jesus: Seine Antwort ist eindeutig. Gott ist ein Gott der Lebenden. Er hebt das Denken von Auferstehung auf eine andere Ebene. Auferstehung, das ist: Frauen müssen sich nicht mehr dem Joch ungerechter Gesetze beugen und werden nicht mehr unfreiwillig an Männer gebunden. Dort ist Auferstehung, wo es solche unterdrückerischen Gesetze nicht mehr gibt. Auferstehung ist nicht in einem „Drüben“, sondern im Hier und Heute. Jesus hebt in seiner Antwort letztlich die Zeitstruktur von Heute und Morgen auf und betont die Jetztzeit als jene Zeit, die zählt. In diesem Sinne sind die mythologischen Bilder von Gericht, Fegefeuer und Himmel nicht nur Aussagen für ein Danach und Dort, sondern zugleich für ein Hier und Jetzt.

Bilderwelt des Jenseitigen richtig deuten

Die alten Kirchen unseres Landes sind voll von Darstellungen vom Jüngsten Gericht und Bildern von Himmel, Fegefeuer und auch Hölle. Volkskunst aus der Zeit der Gotik kann aber auch im Heute interpretiert werden. In solchen Bildern kann einerseits Angst vor der Hölle gemacht werden. Über Jahrhunderte ist dies geschehen. Gott und mit ihm Jesus als Weltenrichter wurden als strafende Instanz wahrgenommen, die mit Hilfe des Seelenwägers über die Zahl der guten und schlechten Taten am Ende der Tage das Gericht halten werden.

Solche Bilder könnten aus einem anderen Blickwinkel auch eine tröstliche Ermahnung sein. Auf die Waage kommt die Seele des Menschen und nicht sein Besitz, nicht seine gesellschaftliche Stellung, seine Titel und Auszeichnungen. So führt mich die Seelenwaage des Erzengels zu einer Antwort auf Fragen nach dem Diesseitigen, Fragen nach dem, was wirklich im Leben wiegt. Hier und jetzt schon.

Die Vorstellungen von Himmel, Hölle und Fegefeuer aus interreligiöser Perspektive

Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod sind konstitutiv für alle Religionsgemeinschaften. Den religiösen Menschen zeichnet es aus, dass er an den Tod und darüber hinaus nachdenkt. Alle Religionen sehen im Menschen eine mehrfache Wirklichkeit von Körper-Seele-Geist. Was im Hinduismus als „atman“ oder „jiva“ gesehen wird, entspricht vielfach dem, was im europäisch-abendländischen Denken als Seele gesehen wird.

Im geistig-religiösen Stammbaum von Judentum, Christentum und Islam lassen sich die gemeinsamen Entwicklungslinien der Jenseitsvorstellungen nachzeichnen. So haben sich in diesen Religionen zum einen Vorstellungen der griechisch-römischen Antike verdichtet, zum anderen aber auch wesentlich ältere Einflüsse, die bis in die Jenseitsvorstellungen von Zarathustra oder vom ägyptischen Totenreich zurückreichen. Damit wird einmal mehr auch in dieser Frage die Verwandtschaft zwischen den Religionen deutlich.

Hinter den Bildern und Symbolen vom Jenseits steht die grundlegende Erfahrung, dass es nicht egal ist, ob sich der Mensch für das Böse oder das Gute entscheidet. Eine Person ist für das verantwortlich zu machen, was sie tut. Dafür steht das Symbol des Gerichts bzw. als Orte der Belohnung oder Bestrafung Himmels- oder Höllenvorstellungen. Dafür steht im Hinduismus das Gesetz des Karmas, wonach jede Tat ihre positive oder negative Wirkung nach sich zieht. So schaffen die Jenseitsvorstellungen einen Überbau, um die ethischen Grundverpflichtungen zu unterstreichen. Ob es das Doppelgebot der Liebe ist (Mt 22,34-40), die vedische Bhakti-Mystik oder das Dharma-Chakra zur Überwindung des Leidens – „Jenseitsvorstellungen“ wollen im Diesseits Veränderungen bewirken. Das Reich Gottes als zentrales Motiv in der Verkündigung des Jesus von Nazaret ist zunächst eine diesseitige Wirklichkeit genauso wie die Überwindung des Leidens im Buddhismus. In allen Religionen haben sich mit der Zeit volkstümliche Vorstellungen heraus entwickelt, die zum Teil ein phantasievolles Eigenleben hatten und sich vom Kern des ursprünglichen Jenseitsglaubens weit weg entwickelt haben.

Reinkarnation und Auferstehungsglaube wiederum müssen nicht als zwei unterschiedliche Modelle gesehen werden. In jedem Menschen gibt es eine Art von „Wiedergeburt“ von Jesus Christus, wenn er oder sie die Person Jesu Christi in seinem eigenen Sein „auferstehen“ lässt. in jedem Handeln eines Christen geschieht insofern „Reinkarnation“, wenn es im Sinne des Lebens und der Botschaft Jesu Christi geschieht. Der Heilige Oscar Romero brachte es kurz vor seiner Ermordung mit diesen Worten prägnant auf den Punkt: „Wenn sie mich töten, werde ich im Volk von El Savador auferstehen.“ Die geläufigsten Ausdrücke für christliche Todesanzeigen lauten „ewige Ruhe“ oder „ewigen Frieden“. Diese Formulierungen sind dem sehr nahe, was Buddhisten mit dem Begriff „Nirvana“ oder Hindus mit „Moksha“ bezeichnen.

In allen Religionen gibt es zugleich die Tendenzen zu fundamentalistischen und sektenhaften Sichtweisen, die sich dadurch auszeichnen, dass die bildhaften Jenseitsvorstellungen wortwörtlich ausgelegt werden. Damit kann ein strafend-drohend-rächender Gott konstruiert werden, der die Guten von den Bösen in einem zeit-räumlich verstandenen Endgericht bestrafen oder belohnen wird. Die Unterschiede in den religiösen Jenseitsvorstellungen liegen zwischen deren fundamentalistischen Engführungen.

Je mehr mit Endgericht und Hölle gedroht wird, desto fundamentalistischer erscheinen religiös-fundamentalistische Bewegungen, ob es die islamistischen Terrorbewegungen sind, in denen sich Menschen als vermeintliche Märtyrer in den Tod bomben, oder die evangelikalen Bewegungen, die irdische Ungemach gerne mit dem Hinweis auf einen künftigen Himmel in Kauf nehmen.

Die Unterschiede in den Jenseitsvorstellungen sind kontextuell und geschichtlich gewachsen, berühren jedoch nicht das gemeinsame Wesen. Unterschiede sind innerhalb einer Religionsgemeinschaft manchmal größer als zwischen den Religionsgemeinschaften. Die weiterhin grassierenden Fegefeuer- oder Höllenvorstellungen im Bereich eines katholischen Fundamentalismus können sich mit Höllenvorstellungen islamischer Fundamentalisten decken, entsprechen jedoch sicher nicht dem, wie in einer aufgeklärten Theologie heute über die „Letzten Dinge“ gedacht wird.

Die Emmausgeschichte aus dem Lukasevangelium als Symbolgeschichte für den christlichen Jenseitsglauben

Die beiden Emmausjünger machen sich nach der Passion Jesu Christi auf den Weg. Wir können uns historisch in sie hineinfühlen. Es ist die Erfahrung, dass dieser Jesus von Nazareth, der für sie Hoffnung auf Befreiung bedeutet hatte, nun von den politisch Mächtigen kaltblütig und bestialisch hingerichtet worden ist. Wie soll nun ohne ihren Rabbi die Sache der Befreiung und des Reiches Gottes weitergehen? Ist ihr Projekt nicht gescheitert? Jedenfalls gehen sie weg von jener Stadt, die für sie zu einer Stadt des Grauens geworden ist. Vielleicht auch gehen sie mit Angst weg. Auch ihnen könnte es an den Kragen gehen. Weg also von der Stadt, die voll von römischen Besatzungssoldaten, Tempelwachen, Günstlingen der römischen Besatzungsmacht und heimischen Kollaborateuren war.

Die Frage lautet nicht, ob Jesus auferstanden ist, also nicht diese einfache Ja-Nein-Frage, die keine denkerische Leistung voraussetzt, sondern: Wie ist Jesus auferstanden? Ist das Projekt Jesu Christi nicht gescheitert, wenn wir die gegenwärtige Lage in der Welt betrachten, angesichts all der Gewalttaten und Kriege, angesichts der Klimakrise und der Ressourcenvernichtung und des Verlustes der Biodiversität? Solches Fragen ist eine Anfrage an uns, wie wir die Botschaft des Gewaltverzichts und der Solidarität, für das Leben und die Botschaft von Jesus Christus stehen, in unserem eigenen Leben realisieren können.

Diese Auferstehungsgeschichte ist eine Geschichte von Zweien. Man kann sich das gut erklären: Zu zweit haben sie mehr Mut, zu zweit fühlen sie sich etwas sicherer in dieser für sie bedrohlichen Zeit. Einer kann den anderen korrigieren. Zu zweit, das hatten sie bereits von ihrem Meister gelernt, der die Jünger und Jüngerinnen zu zweit ausgeschickt hatte. (Lk 10,1) Die beiden haben sich auf ein Ziel geeinigt, das einen konkreten Namen hat: Emmaus. Sie haben sich kein großes Ziel gesetzt, keine weite Wegstrecke. Es sind nur 60 Stadien, das sind 12 km von Jerusalem nach Emmaus. Sie überfordern sich nicht.

In dieser Paarkonstruktion wird zugleich Raum für Kommunikation geschaffen. Für heute stellt sich die Frage: Mit wem bin ich unterwegs, um offen zu sein für die Auferstehungswirklichkeiten? Wo bin ich einsam mit meinem Tränen und dem Weltschmerz? Wo bin ich allein mit meinen Träumen von einer besseren Welt und wo kann ich sie mit jemandem teilen? Ein Sprichwort trifft diese Auferstehungswirklichkeit des Miteinanders punktgenau: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ Dankbar bin ich jedenfalls für Menschen, die mich auf diesem Weg stärken.

Freilich sind es in der Emmaus-Geschichte zunächst nur zwei! Darin liegt auch eine Hoffnung. Auch damals, am ersten Ostermorgen und dann auf dem Gang nach Emmaus, waren es noch nicht viele. Auch die zarten Ansätze eines anderen Lebens sind heute nur klein und bestimmen nicht die Politik dieser Welt. Doch liegt darin schon der Keim einer anderen Welt. Das gibt Mut.

Die kommunikative Grundstruktur des Glaubens an Auferstehung wird gleich zu Beginn der Emmauserzählung deutlich. Zwei Menschen im Dialog. Sie reden nicht aneinander vorbei; sie führen keine Monologe; sie quatschen einander nicht voll; sie reden kein belangloses Zeugs; nicht einer versucht den anderen zu überzeugen. Nein: Sie reden miteinander, heißt es ausdrücklich. Ihre Worte sind auch geprägt von einem „Nachdenken“. Ich kann mir vorstellen, wie sie Pausen machen, um die Worte des jeweils anderen zu erwägen, und sich dabei auch in die Augen schauen. Wenn Dialog so stattfindet, wenn Kommunikation in dieser Weise gelingt, dann geschieht es, dass sich Jesus dazugesellt.

Jesus drängt sich nicht auf. Dieses Nähern hat etwas Zärtliches und etwas Vorsichtiges an sich. Er erschreckt die beiden nicht. Er dirigiert nicht. Jesus bestimmt nicht, wo es lang gehen soll. Er geht einfach mit. Er passt sich den beiden an. Auch dies können wir von Jesus lernen. Wie oft bin ich geneigt, anderen meinen Weg aufzudrängen, statt mit den anderen unterwegs zu sein?

Die beiden Jünger gestehen sich ihre Niedergeschlagenheit und Trauer ein. Sie sind nicht Prototypen einer Keep-Smiling-Gesellschaft, haben nicht jenes Dauergrinsen der Mächtigen in Politik und Wirtschaft, das Zeichen für ihre Art des Erfolgs ist. Die beiden haben den Mut, ins Dunkle zu blicken und auch die Abgründe des Lebens anzunehmen. Typisch für diesen Jesus ist, dass er sich gerade den Menschen in ihrer Niedergeschlagenheit zuwendet. Es klingt an, was er gesagt hatte: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.“ Diese Botschaft bleibt.

Auch heute kann die Erfahrung gemacht werden: Wir können uns dem Dunklen und Schweren in unserem Leben stellen, weil gerade darin Begegnung mit dem Auferstandenen möglich werden kann. Wir können und müssen alle Gefühle des Schmerzes, der Enttäuschung, der Mutlosigkeit und der Zerbrochenheit radikal ernst nehmen.

Die beiden Jünger machten eine eucharistische Grunderfahrung. Oder besser gesagt: Die lukanische Gemeinde machte die eucharistische Grunderfahrung und kleidete sie in die Geschichte der Emmaus-Jünger. Martina Kraml beschreibt in ihrem Buch „Verwandlung auf das Leben hin“, dass Essen und Trinken Orte der „Berührung Gottes“ sein können und damit die erfahrbare Grundstruktur bieten, die wir ekklesiologisch die eucharistische Gemeinschaft nennen.

Eucharistisches Erleben ist nicht an katholisch-kirchliches ritualisiertes Tun gebunden bzw. vom sakramentalen Handeln eines Priesters abhängig. Wird die Emmaus-Erfahrung auf diese Form von Eucharistie reduziert, wird sie somit eingeengt auf eine katholische Messfeier, die meist nicht mehr eine Emmaus-Erfahrung ist, wo „die Augen aufgehen“. Dankbar bin ich für meine Orte des göttlichen Brotbrechens – im Zusammensein mit Menschen, die mir das Leben bedeuten.

Der Auferstandene bleibt zunächst unerkannt. Erst schrittweise gehen die Augen auf. In der Auferstehungsgeschichte bei Johannes verwechselte Maria Magdalena zunächst den Auferstandenen mit einem Gärtner (Joh 20,1.11-18). Bei der Erscheinung im Abendmahlssaal (Joh 20,19-23) oder bei den Erscheinungen am See (Joh 21,1-4) – die Gestalt der Erscheinung wird erst in weiterer Folge mit der Person Jesu identifiziert. Die Emmausjünger „träumen“ somit in der Begegnung mit dem Fremden und in der auch außerpsychisch objektiv erfahrbaren Wirklichkeit vom auferstandenen Jesus. Betont wird in der Erzählung das visuelle Element der „aufgegangenen Augen“. Die Auferstehung spielt sich somit nicht nur im träumenden Bewusstsein ab wie bei einem Schlaftraum, sondern hat einen sichtbaren Anhaltspunkt.

Der Wert dieser Sichtweise führt weg von den Orten Emmaus, Jerusalem oder dem See von Galiläa hin zu meinen Lebensorten. Die neutestamentliche Emmauserzählung ermutigt, den Visionen und Träumen mehr Raum-Zeit zu geben. Wären die Träume an der Macht, so wäre diese Welt wohl eine bessere! Die Schreiberinnen und Schreiber der Evangelien hatten aufgrund ihrer existenziellen Erfahrungen den Mut, die Jesus-Geschichte nach seinem Tod mit Visionen von der Auferstehung fortzuschreiben. Sie ermutigen, an einen sich in der Geschichte stets offenbarenden Gott zu glauben und unsere Auferstehungs-Visionen selbst wahrzunehmen.

Obwohl es bereits Abend wurde, blieben nun die beiden Jünger nicht bequem in ihrer Emmaus-Herberge. Ihr Herz brannte. Sie waren begeistert; sie wollten zu den anderen Jüngerinnen und Jüngern. Diese Erfahrung von Auferstehung wollten sie nicht für sich behalten. Die Auferstehungsgemeinschaft wächst, denn auch die Elf und ihre Gefährten und Gefährtinnen hatten Auferstehungserlebnisse. So wurde Kirche der Auferstehung gegründet. Sie teilten sich ihre Träume und Visionen. Für die Christen und Christinnen der Urkirche galten wohl die Worte von Faust, die ihn Goethe bei seinem Osterspaziergang sprechen lässt: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selbst auferstanden.“ Und Goethe lässt auch deutlich werden, wie diese Auferstehung konkret und materiell geschieht, als Befreiung von Unterdrückung und Lebensverstümmelung: „Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern/Aus Handwerks- und Gewerbesbanden/Aus dem Druck von Giebeln und Dächern/Aus den Straßen quetschender Enge/Aus den Kirchen ehrwürdiger Nacht/sind sie alle ans Licht gebracht.“

Für mich wird hier so schön greifbar, was Auferstehung in einem politischen Sinn aber auch in einem individuellen Sinn bedeutet. Es ist nie eine Vertröstung mit einem jenseitigen Himmel. Jesus ist in diese Welt hinein auferstanden. „Geht zurück nach Galiläa!“, heißt es in einer der Auferstehungsgeschichten. Das heißt für uns heute: Gehen wir in unsere Familien, in unsere Beziehungen, unsere Arbeitsplätze, die Welt – dort sind die Auferstehungsorte zu finden.

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der im Widerstand gegen das Naziregime war und hingerichtet wurde, meinte zum Auferstehungsglauben: Die christliche Auferstehungshoffnung verweist den Menschen auf das Leben auf der Erde, im Hier und Jetzt. Der Glaube an die Auferweckung heißt, dass Ungerechtigkeit nicht das letzte Wort hat, dass die Täter nicht auf Dauer über ihre Opfer triumphieren werden. Auferstehungsglaube ist die Widerstandskraft gegen die Kräfte des Todes.

Die biblischen Auferstehungsgeschichten ermutigen jedenfalls dazu, die Auferstehungserfahrungen mitten im Leben zu sehen. Sie sind auch kennzeichnend für das gesamte Leben Jesu, wie es die Evangelien schildern. Auferstehung durchzieht das ganze Evangelium. Im Markusevangelium können wir von etlichen dieser Auferstehungsgeschichten lesen. Erinnert sei an die Heilung des Gelähmten. Er wird von seinen Freunden getragen und über das Dach zu Jesus hinunter gelassen. Jesus sagt zu ihm: „Ich sage dir, steh auf!“ Durch die Zuwendung seiner Freunde und durch Jesus gelingt es ihm aufzustehen.

Mein „Allerheiligen-Glaube“

Ich selbst erlebe in vieler Weise das Allerheiligen- und Allerseelenfest als befreiende und tröstende Zeit. Ich muss in der kurzen Zeitspanne meines Lebens nicht alles erreichen, weil das Leben über die Begrenztheiten des Diesseitigen hinausreicht. Ich darf gelassen sein mit Blick auf meine gegenwärtigen Begrenztheiten, weil das Kleine, das sich erreichen lässt, weiterwachsen kann, weil die Energie, die ich für eine bessere Welt einsetze, nie verloren sein wird. Die Bilderwelt rund um Allerheiligen macht mir bewusst, dass jede Tat verantwortet sein muss. Hindus sprechen zurecht vom Karma und Buddhisten vom Weg der Erleuchtung. Die Wirklichkeit des Gerichtes und damit Rechtschaffenheit für mein Leben können nicht verdrängt werden. Zugleich weiß ich, dass die bedingungslose göttliche Barmherzigkeit eine Kraft ist, die Unversöhntes zur Versöhnung führt, die Sünden in Verzeihung auflöst, die Feindschaft in Freundschaft überführt, die in meine Traurigkeit ein Lächeln zaubert und die Unruhe in Frieden wandelt. Die Welt-Endlichkeit, von der Martin Heidegger spricht, ist letztlich die Bedingung dafür, dass ich mein  „In-der-Welt-sein“ radikal ernst nehme – oder, wie es die zentrale Lehre im Buddhismus ist, fordert mich heraus, ganz im Augenblick des Daseins anzukommen und mich nicht mit einem Leben in einem Jenseits zu vertrösten.

Klaus Heidegger, zum Fest Allerheiligen

Kommentare

Schreibe einen Kommentar zu Markus Antwort abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.