Rationalität als Denkstruktur statt Hysterie: Nachgedanken zum ESC in Basel

Mein literarischer Impuls zu dem aktuellen nationalen Pathos über den Sieg von JJ beim Eurovisions-Song-Contest ist auf Zustimmung und Widerspruch gestoßen. Als Fan einer diskursiven Ethik in der Tradition von Jürgen Habermas schätze ich Widerspruch, weil uns im Sinne von Hegel das dialektische Denken im Wechselspiel von These-Antithese-Synthese in der Wahrheitssuche weiterbringen kann.  Wenn ich bestimmte bestimmende Ereignisse im großen weltlichen Getriebe beobachte und analysiere, helfen mir solche rationalen Denkstrukturen der modernen Philosophie.

Erstens galt meine Kritik – und Kritik sollte seit Kant nie als Schimpfwort gesehen werden – nicht der Leistung des opernhaften Sängers mit dem Künstlernamen JJ. Er und sein Team legten eine großartige Leistung hin – an Gesang und Inszenierung. Was mich überraschte, war vielmehr, dass dieser „Sieg“ zum Sager des heimischen Kulturministers führte, nun sei Österreich eine „Kulturnation“.  Was mich störte, war diese Identifikation von Kultur mit Show; was mich irritierte und fast beängstigte, waren die  nationalen hysterischen Reaktionen, die jede Rationalität wegfegten.

Ein zweiter Blickwinkel außerhalb der ganzen Show-Perspektive könnte auch in einem positiven Sinne interpretiert werden. Der ESC ist nicht erst seit JJ zu einem safe-haven bzw. zur Bühne für Diversität und unterschiedliche Geschlechtsidentitäten geworden. Hier darf Queerness nicht nur sein, sondern wird fast schon zum Erfolgsfaktor und entsprechend inszeniert. Nemo konnte mit seinem Song beim ESC 2024 den ersten Preis gewinnen. Bewusst hat er sich dabei als non-binäre Person ins Spiel gebracht, als Person, die sich von seinem Geschlecht her weder als männlich noch weiblich sieht und letztlich mit dem eigenen Körper nicht klarkommt. JJ wiederum hat seine Homosexualität bewusst auch zum Thema gemacht.  In einer Zeit, in der unter dem Kampfbegriff „Anti-Wokeness“ rechtspopulistische Parteien Oberhand gewinnen und die Anliegen der LGTBQA+-Bewegung als Humbug kritisieren, braucht es daher ESC, wo identitäre Vielfältigkeit zelebriert wird. Hier kann wohl auch an „Phoenix“ von Conchita Wurst erinnert werden oder an die serbische Gewinnerin, die bewusst ihre lesbische Orientierung vortrug oder die finnische Gewinnerin, die ihren Song nützte, um für eine Ehe für alle einzutreten.

Doch noch einmal zurück zu einem Denken in der Tradition der Aufklärung, die nicht mit Wokeness verwechselt werden darf. In all die Hysterie heute bräuchte es einen aufgeklärten und rationalen Blick auf die Inhalte und Inszenierungen. Grenzen die Lyrics von „Wasted Love“ bzw. noch mehr das dazugehörende Video mit dem im Liebesfrust im Ozean fast ertrinkenden JJ nicht scharf an suizidale Denkmuster in der Tradition von „die Leiden des jungen Werther“? Der heurige Auftritt von Nemo in Basel als non-binäre Person endet letztlich in einem psychischen und somatischen Zusammenbruch. Kurzum: In einer Welt, in der gefährliche Emotionalitäten die privaten wie politischen Geschehnisse bestimmen, bräuchte es so viel mehr Logik und Rationalität, die nicht im Widerspruch zur Emotionalität stehen.

klaus.heidegger
(„Skulptur“ die ich kürzlich bei einer Ausstellung in der Albertina Modern in Wien sah)

Kommentare

  1. Es ist schön, dass es noch Diskantsänger gibt. Wenn er weiter trainiert und auch auf leise und hoch modulieren lernt, wird er ein Ereignis, das Gänsehaut verursacht wie Claus Nomi mit seinem letzten Auftritt.

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