Vom Sterben und Hungern in Gaza und vom Schweigen in unseren Breiten

Wenn ich in den letzten Monaten, genau genommen seit dem 7. Oktober 2023, über das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gaza-Streifen schrieb, wenn ich die Kriegspolitik von Netanjahu und seiner rechtsextremen Minister kritisierte, immer dann wurde ich gleich als Hamas-Freund gesehen oder es wurden mir antijüdische, antiisraelische oder antisemitische Neigungen zugesprochen. Der Terror der Hamas und die Brutalität des Massakers vom 7. Oktober und das Festhalten der israelischen Geiseln schienen alles zu legitimieren: Die Abriegelung des gesamten Gaza-Streifens durch die Israelischen Verteidigungskräfte, die monatelangen Bombardements, die Gaza-City und andere Städte in Schutt und Asche legten, das gezielte Bombardieren von Krankenhäusern, Schulen und Flüchtlingslagern, die Vertreibung von zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen und zuletzt das systematische und völkerrechtswidrige Aushungern der Bevölkerung von Gaza. Erst zuletzt musste ich einen Artikel verändern, in dem ich jenen Begriff benützte, der vom Internationalen Gerichtshof für das Vorgehen von Netanjahu aber durchaus Verwendung fand: Völkermord. Genozid. Seit Netanjahu nun selbst offen spricht, dass der Gaza-Streifen besetzt werden müsste und von Israel zu kontrollieren sei, sollte keine Zweifel mehr bestehen, dass es dem israelischen Kriegskabinett um mehr geht als nur um die Befreiung der Geiseln und den Kampf gegen die Hamas. Es ist die Fortsetzung einer aggressiven völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik, wie sie in der Westbank seit vielen Jahren betrieben wird.

In der österreichischen Medienlandschaft hat sich die Haltung gegenüber dem Israel-Hamas-Krieg in den letzten Wochen verändert. Dies betrifft insbesondere den STANDARD. Besonders wichtig finde ich dabei jene Stimmen, die unverdächtig über jeden Antisemitismus und jede Israelfeindlichkeit sind, weil sie bewusst aus der Integration in jüdisch-israelische Zusammenhänge schreiben. So schreibt Eric Frey (16.5.2025), dass auch das Recht auf Selbstverteidigung Grenzen habe, „Grenzen, die Israel immer weniger beachtet. Je mehr Zeit seit dem Hamas-Massaker vergeht und je blutiger und grausamer der israelische Militäreinsatz im Gazastreifen wird, desto größer wird das Missverhältnis zwischen Israels Recht und dem von seiner Armee begangenen Unrecht. Die Taktik der Hamas, ihre Kämpfer und Waffen mitten unter die Zivilbevölkerung zu setzen und diese damit in Schutzschilde zu verwandeln, macht den Kampf gegen die Terrororganisation nicht leicht. Vor diesem Dilemma standen auch die USA im Vietnamkrieg. Und je frustrierender die militärische Lage – die anhaltende Kampfkraft der Hamas ist sehr frustrierend –, desto mehr schwindet die Bereitschaft, auf Zivilisten Rücksicht zu nehmen.“ Frey kritisiert den Einsatz von Hunger als Waffe: „Aber auch hier gibt das Völkerrecht Regeln vor, die Israel missachtet. Vor allem seit dem Ende der Waffenruhe im März scheint die Regierung den Schluss gezogen zu haben, dass für einen Sieg über die Hamas so gut wie alles erlaubt ist. Die wochenlange Blockade der Hilfslieferungen, die im Gazastreifen eine Hungersnot auslöst, lässt sich durch nichts rechtfertigen – weder durch die vielen Toten des 7. Oktober noch durch die Geiseln, die die Hamas seit 19 Monaten hält, oder den anhaltenden Raketenbeschuss auf zivile Ziele in Israel. Auch die Menschen im Gazastreifen haben ein Recht auf Schutz.“ Frey argumentiert, dass in der gegenwärtigen Lage die Bombardements in Bezug auf die Bekämpfung der Hamas keinen Sinn mehr machten. Die Hamas würden keine existenzielle Bedrohung mehr darstellen und könnten zugleich auch nicht vollständig besiegt werden. Das legt also nahe, dass es Netanjahu um etwas anderes ging, was zugleich seine rechtsextremen Koalitionspartner fordern würden: Die Expansion und Besiedelung.

In der österreichischen Politik hat zuletzt ein Interview mit Heinz Fischer (8.5.2025) eine Tür geöffnet, die auch Kritik gegenüber der israelischen Führung als legitim erscheinen lässt. Er war der erste prominente Politiker, der öffentlich scharfe Kritik am Vorgehen der israelischen Führung geübt hatte und selbst von „Kriegsverbrechen“ sprach. Der Altbundespräsident erwartet sich auch von der österreichischen Regierung klare Worte. Heinz Fischer: „Stillschweigen und Ignorieren der Fakten geht nicht.“ Bezugnehmend darauf schreibt der Historiker Gerhard Botz: „Daher ist sehr zu begrüßen, dass durch Heinz Fischers Initiative ein Anstoß erfolgt ist, nun auch das bedrückende Schweigen über die – höchst problematische – Politik Israels zu brechen und die Bundesregierung zum politischen Handeln aufzufordern.“ Die heimische Außenministerin und der Bundeskanzler schweigen aber weiterhin. Im Kontext der Europäischen Union hat Meinl-Reisinger beim EU-Außenministertreffen (20.5.2025) zuletzt nicht jene Position eingenommen, wie sie beispielsweise von Macron vorgelegt wurde. Das EU-Assoziierungsabkommen mit Israel wird von der österreichischen Außenministerin nicht als Chance gesehen, um auch Druck auf Israel auszuüben. Allerdings hatte sie zuvor auch darauf gedrängt, die Blockade aufzuheben und Hilfslieferungen unter dem Mantel der UNO an die Bevölkerung von Gaza zu ermöglichen. Der Schriftsteller Doron Rabinovici ruft zu einer Waffenruhe auf. Die Geiseln könnten nicht militärisch befreit werden. Wörtlich. „Nur eine politische Lösung für Israel und die Palästinenser kann eine Niederlage der Hamas besiegeln.“

Klaus Heidegger, 22. 5. 2025

Bezugnehmend u.a. auf: https://www.derstandard.at/story/3000000270130/israels-kriegsfuehrung-in-gaza-laesst-sich-immer-weniger-rechtfertigen; https://www.derstandard.at/story/3000000269098/das-schweigen-ueber-israels-politik-brechen; https://www.derstandard.at/story/3000000270185/ganz-gaza-steht-am-beginn-einer-voellig-vermeidbaren-hungerkatastrophe

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Kommentare

  1. Lieber Klaus, vielen Dank für deinen wertvollen Artikel. Die führenden Politiker:innen mögen weiterhin schweigen, doch immer mehr Menschen erwachen aus dem Dornröschenschlaf und beginnen, Druck auf Politik und Institutionen auszuüben. Studierende protestieren gegen die Zusammenarbeit ihrer Universitäten mit israelischen Einrichtungen. Israelische Sportmannschaften werden von Wettbewerben ausgeschlossen. Konzerte von Künstler:innen, die Israel unterstützen, werden aufgrund zahlreicher Boykottaufrufe abgesagt. Wir müssen uns der Kraft unserer Stimme bewusst werden und sie nutzen. Wir müssen so laut sein, dass uns selbst die österreichische Politik nicht mehr ignorieren kann. Eine Politik, die offenbar in ihrer Bringschuld gegenüber Israel gefangen ist und mit ihrem Schweigen einem weiteren Völkermord in unserer Geschichte tatenlos zusieht.

  2. Danke Klaus! Ja, die Doppelzüngigkeit der österreichischen und EU-dominierten Palästina-Politik ist unerträglich. Sie redet seit Jahrzehnten von der Zweistaatenlösung, verabsäumt es aber völlig, jene realpolitischen Hebel in die Hand zu nehmen, die Israel dazu bewegen würden, diese auch zuzulassen. Der wichtigste dieser Hebel wäre der von dir erwähnte Assoziierungsvertrag zwischen der EU und Israel aus dem Jahr 2000. Darin hat die EU Israel zahlreiche Privilegien eingeräumt, fast so, als wäre Israel ein Mitgliedstaat der EU. So darf Israel beispielsweise Waren zollfrei in die EU exportieren. Da die EU Israels wichtigster Exportmarkt ist, könnte es sich Israel gar nicht leisten, seinen unerträglichen Umgang mit dem Freiheitsstreben des palästinensischen Volkes nicht bald zu ändern. In Art. 2 dieses Abkommens hat sich Israel zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet, die es täglich tausendfach verletzt. Artikel 82 enthält eine Kündigungsklausel. Solange die EU diesen Hebel nicht in die Hand nimmt, gerät jeder Diskurs über Palästina zur Heuchelei!

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