Weltvergessende Gegenwärtigkeit auf der Zillertaler Höhenstraße

Rennradfahren hinein in die Täler und hinauf in die Höhen hat für mich auch mit Flucht zu tun: Weg von den dystopischen Bildern in den Medien, die mir oft schwer auf der Seele liegen; weg von den Nachrichten über die Kriege und all das Gerede und Geschreibe, man müsste militärisch aufrüsten, um stärker als der Feind zu sein, man müsste noch mehr Milliarden in Kriege stecken – so auch heute wieder die Töne in den Medien; weg von den Meldungen über die klimatisch bedingten Waldbrände und Extremwetterereignisse. Dann möchte ich den Autolärm in den Straßen weit unter mir lassen. Für all das ist es hilfreich, dass es viele Höhenmeter sind, die hinaufgefahren werden, und so die Kraft in mir zu spüren, mich von dem Negativen nicht unterKRIEGEN zu lassen. Die Zillertaler Höhenstraße ist mir ein heilender Ort und heilsam ist die achtsame rennradbegeisterte Begleitung, die sich zwischendrin zwar etwas weniger an Steilheit wünscht. Die Sonne kann auf der Fahrt hinein ins Zillertal noch nicht ihre Kraft entfalten. In Fügen bereiten sich Menschen in Tracht für das Bezirksmusikfest vor. Eine schmale Straße führt durch das Golfplatzgelände von Uderns. Meine Lieblingsauffahrt zur Zillertaler Höhenstraße beginnt in Ried (550 m). 1400 Höhenmeter geht es dann fast pausenlos mit Rampen bis zu 16 Prozent hinauf. Inzwischen kenne ich wohl jede Kurve auf dieser Strecke. Solches Gewohntsein hilft, in einen meditativen Flow zu kommen. Da ist das Wildtiergehege, wo Hirsche und ihre Kälber den Radfahrenden interessiert ansehen; da laufen zwei Bächlein zu einem zusammen; da bieten sich Blicke in den Talgrund, der immer weiter unten liegt; da ist eine Alm, wo jetzt aber keine Kühe sind; da ist die Mautstation, wo die Auffahrt von Kaltenbach hinaufkommt; und nach etlichen sehr steilen Stücken und viel Wald weitet sich über der Waldgrenze der Blick. So ganz genau will ich bei dem Trubel um die Bergrestaurants aber nicht herumblicken – und die Liftanlagen vom Skigebiet Hochzillertal ignoriere ich. Es geht wieder ordentlich hinunter Richtung Aschau und dann wieder steil hinauf in die Almen. Manchmal wünsche ich mir ein größeres Kettenblatt hinten – so fahre ich halt viel im Wiegetritt. Zum Glück sind kaum Motorradfahrende unterwegs. Bei einem der Bergrestaurants dröhnt eine Volksmusikkapelle die Landschaft rundherum voll. Frühschoppen-Stimmung. Angenehmer ist die einfache Wirtschaft am höchsten Punkt, die Jausenstation Melchboden auf 2020 m. In der holzgetäfelten Gaststube hängt eine vergilbte Stickerei umrahmt von einem Jagdgewehr, einem Jagdmesser, Gamshörnen mit Fotos von Kaiser Franz Joseph, in der Heldentum und Patriotismus und die Treue zur Fahne gepriesen werden. Ich lasse es Vergangenheit sein. Die Semmelknödel und das Pfifferlinggulasch sind wohlschmeckende Gegenwart. Die hohen Berge der Zillertaler Alpen sind in Wolken gehüllt. Weit hinten ragt dennoch der Hochfeiler heraus – erst vor ein paar Tagen war ich da oben. Steil wird die Abfahrt hinunter ins Zillertal. Wir fahren von Hippach bis Zell zunächst noch auf der Landstraße und dann entlang des Zillers am Radweg zurück nach Strass. 30 Kilometer im starken Gegenwind. Die Kugellager der Rennräder surren mit dem Wind und dem Wasser des Zillers. Manchmal macht sich die pittoreske Zillertalbahn mit einem Pfeifen bemerkbar. Im Inntal dreht der Wind und bläst uns nun zurück Richtung Jenbach.

Kommentare

  1. Diese Straße die Dir hilft wegzukommen. Ich denke dieses Asphaltband durch Deine Berge ist Dein Freund. Vielleicht kann Dir Dein Freund helfen Dich mit Dingen zu versöhnen.

    Es gäbe Deinen Freund, diese Straße nicht ohne die Dinge von denen Du versuchst wegzufahren.

    Wolfgang

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