3019 Höhenmeter, 2 Höhen und viele Gedanken dazwischen: Mit dem Rennrad von Imst über den Pillersattel auf den Kaunertaler Gletscher und zurück nach Landeck

Die Kühle des kommenden Herbstes reicht in den späten Sommer. Ein wolkenloser Tag beginnt, geeignet für etwas Größeres, passend für eine Rennradtour auf meiner Alt-Heim-Strecke. Startpunkt: Imst-Bahnhof. Auf der Pitztaler Landesstraße kommt mir der Morgen-Pendler-Kolonnenverkehr entgegen. Die Autofahrenden werden sich über die zuletzt beschlossene erhöhte Pendlerpauschale freuen. Meine Liebe zum Rennradfahren habe ich auf diesen Kilometern als junger Mensch gepflegt – noch zu einer Zeit, als man ohne Helm fuhr, als die Radschuhe mit Riemen an den Pedalen befestigt waren und der Rennradrahmen aus Stahl hart und schwer war. In Wenns beginnt der mir so bekannte Anstieg zum Pillersattel. Die Sonne verzaubert die Bergwelt, lässt die Konturen der Gipfel kräftig hervortreten. Wieder gehen meine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Als ich noch jung war und diese Anstiege fuhr, fuhr ich immer allein. Da war im Dorf noch niemand mit Rennrad. Es gab auch keine Frauen, die Rennrad fuhren, in die ich mich hätte verlieben können, um nicht alleine zu fahren. Und wieder denke ich zurück an viele Fahrten in den Jahren zu vor- später auch zu zweit. Radfahrten prägen sich aufgrund ihrer Sinnlichkeit meist tief in das neuronale Netzwerk des Gehirns ein. Der Tag heute ist so morgenfrisch, dass mich noch keine Motorräder aus dem meditativen Tritt bringen. Ich atme die frische Luft. Erst am Gachen Blick (1568 m) ein kurzes Innehalten, ein Hinunterschauen ins Obere Gericht – wie ein Schauen in Vergangenheit, die gewesen ist, von der ich gelöst bin, um im Gegenwärtigen zu sein. Die mächtigen Gipfel des Kaunergrats, auf die ich inzwischen nicht mehr so unbekümmert klettern könnte, treten imposant hervor. Vorbei geht es an der Burg Berneck, die idyllisch auf einem Felsenrücken über dem Kaunertal liegt. Dort rauscht die Fagge und ihr entlang geht es hinein durch das Tal. Mächtig bäumt sich am Ende der Steinschüttdamm des Gepatschspeichers auf. Während ich dem gut gefüllten milchig-grünen See entlang radle, denke ich an die geplanten Ausbaupläne mit dem Pumpspeichersee im gegenüberliegenden Platzertal, denke an die kilometerlangen Zuleitungen aus den Bächen des Ötztales, an die Bagger, die auffahren würden, die Tonnen an Beton, die verbaut würden. TIWAG-Verantwortliche und ihre Vertreter in den politischen Gremien denken noch immer in Mega-Dimensionen – denken nicht im Kleinen, denken nicht an die vielen alternativen Möglichkeiten, Energie zu erzeugen. Wasserkraft in Form von Kleinkraftwerken mit kleinem ökologischem Impact, Wind- und Sonnenergie – und vor allem, Energiesparen. Erst vor kurzem war ich wieder bei einer Kundgebung gegen die Kaunertaler-TIWAG-Ausbaupläne. Inzwischen ist auf dem Weg zu den sterbenden Gletschern die auto- und motorradfahrende Tourismuswelt aufgewacht. Manche sehen in der Kaunertaler Gletscherstraße eine Rennstrecke, um PS-starke Monster möglichst schnell und lärmend in die Gletscherregion zu bringen. Würde die heutigen Standards von Umweltverträglichkeitsprüfungen den Bau einer solchen Straße noch zulassen? Wohl nicht, denke ich mir. Dennoch: Es ist eine spektakuläre Panoramafahrt. Die lange Zunge des Gepatschferners ist noch kürzer geworden. Die Hänge darüber hinauf zur Bliggspitze wirken instabil. Ein Abrutschen der Hänge könnte eine Katastrophe auslösen, wenn sich Gesteinsmassen in den See hinein bewegten. Ich fahre ohne Eile – manchmal im Wiegetritt, zähle die Zahl der Kehren hinunter – 26 waren es zu Beginn. Oben angekommen, am riesigen Parkplatz, eine Technikwelt, die so gar nicht zum Hochgebirge passen will. Als Attraktion wird die Begehung einer Gletscherspalte angeboten. Ein Stück Restgletscher ist dazu mit weißen Folien überzogen worden. Die einst stolze weiße Flanke hinauf zum Gipfel der Weißseespitze ist von brüchigen Felsen durchzogen. „Ein jämmerlicher Anblick“, schrieb Michael L. kürzlich in einem AV-Blog, als er auf der gegenüberliegenden Bliggspitze war. Bagger und Lastautos richten lärmend die Moränen für den Bau einer neuen Piste zurecht. Nur schnell weg von diesem Treiben, denke ich mir. Das ist nicht meine Welt. Mit einer Rennradfahrerin, die ich beim Hinauffahren überholte, teile ich noch einen Riegel, weil ihr die Kräfte ausgingen. Vom Gletscher weg rolle ich durch viele alpine Zonen bis zum Bahnhof in Landeck. Ein Buch würde nicht reichen für all die Gedanken, die während des Fahrens sich im Kopf drehten, für all die Düfte der herbstlichen Vegetation, für die Blicke auf die hohen Berge und die Wiesen und die sterbenden Gletscher.

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