enkeltauglich leben

Weiße und lila Leberblümchen sind von den warmen Temperaturen aus dem Boden gelockt worden. Im nahen Zillertal wird sich auch an diesem Wochenende eine lärmend-stinkend zähflüssige Kolonne von Autos hinaus- und hinein stauen – entlang und durch die Dörfer, die Menschen Heimat sind. Im Paznauntal und im Stanzertal und im Ötztal und im Wipptal und über den Brenner und über den Reschen und über den Fernpass und an so vielen Orten wird es nicht anders sein. Die Ferien, die in meinen Schultagen noch „Energieferien“ hießen, um zum Energiesparen einzuladen, sind für die einen zu Ende und für die anderen beginnen sie. Zärtlich berühren Kinderfinger das geschützte lila Wunderwerk, das aus dem noch feuchten Waldboden sprießt. Hier im Wald zwischen den Laubbäumen, die noch die Sonne durchlassen für den Nachwuchs unter ihnen, und den Sträuchern, deren Äste übersät sind mit kleinen Knospen, hören wir kaum die Autobahn. Als ich radfahrend über eine Autobahnbrücke fuhr, um zu meinem Ort zu kommen, spürte ich wieder – wie so oft, wie seit meiner Jugend – meine Wut und meine Angst und meine Tränen. Morgens las ich in der lokalen Tagespresse vom italienischen Ministerpräsidenten, der Tirol anklagt für die Maßnahmen, mit denen der Transit ein wenig eingedämmt wird. Bienen summen und holen Nektar von den Haselstauden. Prallvoll sind sie mit ihren goldgelben Haselkätzchen. Kinderaugen staunen. Kinderfüße ertasten den Waldboden und Kinderhände suchen nach Tannenzapfen, die dann platschend in einem Bächlein landen. Rückblickend bin ich so dankbar für all die Hunderten Stunden, die ich mit meinen Kindern im Wald war, und suche dieses Refugium nun wieder und wieder auf, diese analoge Welt, in der sich erspüren lässt, wie Leben ist, in der sich leben lässt, was lebenswert ist. Die ferngesteuerten Hightech-Spielautos auf der Asphaltfläche vor einem Nachbarhaus sind vergessen. Ihr aggressiver Lärm ist nun weit weg. Ein Raubvogel zieht seine Kreise über den Baumkronen. Frühlingsgezwitscher vieler Vögel und Kinderohren lauschen. Ein „Da“, „Da“ genügt als Kommunikation. Das Bächlein plätschert weit oben als Wasserfall und sucht sich unten den Weg zwischen Felsen und Bäumen. Schon länger hat es nicht mehr geregnet. Schnee in Tallage? Das war weit im Gestern. Die globale Durchschnittstemperatur, so wurde es medial in dieser Woche in den diversen Kanälen wieder und wieder berichtet, liegt nun über den 1,5 Grad, die noch vor kurzer Zeit als Limit bei der Pariser Klimakonferenz vorgegeben worden waren. Plusquamperfekt passt wohl am besten als Zeitform. Die Pariser Klimaziele sind von vorgestern. Weit darüber liegen nun die Werte in Österreich. Die Kipppunkte werden früher eintreten. Menschen, die heute geboren werden, werden eine Welt vorfinden, die so anders sein wird – und sie werden sich fragen: Warum haben unsere Eltern und Großeltern all dies zugelassen und befeuert: die Erhitzung der Erde, das Abschmelzen der Gletschermassen, die Ausbeutung der Ressourcen, all die mutwillige und dumme-dreiste Vernichtung von Lebensgrundlagen. Zurück in der Stadt mit ihrem zu vielen Grau von Straßen und Parkplätzen. Wochenendeinkauf. Die Frau vor mir hat ein Dutzend in Plastik verschweißte Mineralwasserflaschen in ihrem Einkaufswagen und einen Karton mit Bierdosen und obendrauf ein plastikumwundenes gerupftes Federvieh. Im STANDARD las ich zuvor, dass ein Großteil des importierten Geflügels, das in Österreich verkauft wird, der Tortur eines Toe Trimmings unterzogen wird. Den Küken werden kurz nach dem Schlupf mittels Mikrowellentechnologie die Zehen verödet, damit sich die Tiere bei dichter Belegung im Stall nicht verletzen und so die Schlachtkörperqualität trotz der beengten Haltungsbedingungen unbeeinträchtigt bleibt. Die langen Kühlregale mit den rötlich-blutigen Fleischprodukten mied ich ohnehin schon immer – und das Weglassen von Milchprodukten und Eiern fällt mir inzwischen auch nicht schwer. Enkeltauglich will ich leben.  Die „Hendl-Station“ vor dem Parkplatz stinkt wie üblich nach dem Geruch der Tierleichen. Dankbar blicke ich zurück an die Erlebnisse im Wald, den kleinen Stausee, den wir mit Steinen und Ästen und altem Laub im Bach bildeten, das Moos, das wir ertasteten und an dem wir rochen, die leisen Töne der Bienen und das Plätschern des Baches.

Klaus Heidegger, 17.2.2024

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