Je suis Jesus: Jesus-Selfies und das Bild vom „guten Hirten“ – eine materialistische Exegese des heutigen Sonntagsevangeliums

Auf meiner gestrigen Radrunde über Mendelpass, durchs Nonstal und zurück entlang der Weinstraße nach Bozen entdeckte ich gleich über mehreren Kirchenportalen das Bild vom „Guten Hirten“. Das interessanteste davon war wohl in Kurtatsch. Jesus, der gute Hirte, trug nicht nur fürsorglich ein Schaf auf seinen Schultern, das sich dort sichtlich wohl fühlt, sondern wurde zugleich mit dem durchbohrten Herzen Jesu dargestellt. Tief hat sich das Guter-Hirte-Bild in den Volksglauben eingeprägt. Es gehört zugleich zum Urbestand christlicher Theologie. Noch lange bevor es die Darstellungen Jesu am Kreuz gab, wurde Jesus bereits als guter Hirte dargestellt. Am heutigen Tag finden in Salzburg Landtagswahlen und in Innsbruck Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen statt. Bei all diesen Wahlen können Politikerinnen und Politiker, wenn sie gewählt werden wollen, nicht darauf verzichten, sich möglichst gut in Szene zu setzen. „Wählt mich, weil ich bin der oder die …“ Jesus hingegen war aber wohl alles andere als ein Populist. Passen die Ich-bin-Worte überhaupt zu ihm, oder sind sie nicht wunderschöne Dichtung aus dem lebendigen Glauben der späteren christlichen Gemeinden?

Die sogenannten „Ich-bin-Worte-Jesu“ im Johannes-Evangelium sind keine Worte, die Jesus selbst so gesprochen hat. Die moderne Bibelauslegung spricht davon, dass es keine „ipsissima verba“ seien, das heißt keine Worte, die von Jesus selbst stammten. Was wir historisch-kritisch über diesen Mann aus Nazareth sagen können, lautet: Er war Jeschua ben Mirjam aus Nazareth in Galiläa: Jesus, Sohn der Maria, der als eine Art Wanderrabbi mit einem bunten Haufen von Jüngern und Jüngerinnen die prophetisch-messianische Reich-Gottes-Tradition des Volkes Israel aufgegriffen hat und damit bewusst provokant die herrschende Clique aus römischer Besatzungsmacht und lokalen Kollaborateuren und Mitläufern herausforderte. Als tiefgläubiger Jude hat er sich nicht selbst als „Gott“ inszeniert. Dies wäre in jüdischem Verständnis „Blasphemie“ gewesen. Im ältesten Evangelium schreibt Markus mehrmals davon, dass Jesus auch nicht als Messias bezeichnet werden wollte. Auch diese wäre politisch missverstanden worden. Die Mitte seiner Botschaft wird aber gleich im 1. Vers dieses Evangeliums als programmatisches Vorzeichen deutlich. Dort heißt es lapidar:  Das Reich Gottes ist angekommen. (Mk 1,1)

Jesus hat nicht dem postmodernen Typen heutiger Zeit entsprochen. Jesus hat keine Nabelschau betrieben. Ihm ging es nicht darum, sich selbst in Szene zu setzen, sondern seine Botschaft vom Reich Gottes lebendig werden zu lassen. Dieser Blick ist wichtig, damit die Selfie-Generation heute mit egozentrischen Selbstinszenierungen über Soziale Medien nicht auch noch sagen könnte: Dieser Jesus hat sich selbst narzisstisch überhöht.

Nein, würde dieser Jesus heute leben, so würde er kein optimiertes Social-Media-Profil haben, in dem er sich als „Sohn Gottes“ anpreist. Man würde keine Selfies von ihm entdecken, dafür aber die Nobodys seiner Zeit: jene, die als Opfer am Rand der Gesellschaft leben mussten, die Bettler, die Kranken, die gedemütigten Frauen. Sie sind die Schafe auf seinen Schultern, die in den Blick genommen werden. Es sind die Schwarzafrikaner, die ich gestern umringt von Polizisten sah, als sie vergeblich versuchten, über den Brenner zu kommen. Es sind die Schwarzen, die in der Bozner Innenstadt gestrandet sind und sich bestenfalls noch als laufende Straßenhändler mit dem Verkauf unnötiger Dinge abmühen. Damit entspricht Jesus so gar nicht der heutigen Ego-Generation. Er war keine Chamäleon-Existenz, der sich von der sozialen Umwelt nicht abgehoben hätte. Die Jesusbewegung hat sich nicht angepasst, hat sich mit Unterdrückung und Ausbeutung nicht abgefunden. Man könnte ihn nicht mit Duckface vor dem Tempel in Jerusalem sehen, das über facebook, Instagram, Twitter und Co gepostet wird und Tausende Likes erhält. Das wäre für einen Widerständler auch zu gefährlich gewesen.

Johannes gibt mit den Ich-bin-Worten Jesu kein Selfie von Jesus wieder. Im Gegenteil. Wenn er Jesus sprechen lässt „ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11), dann steht dahinter die Erfahrung der ersten Gemeinschaften von Jüngern und Jüngerinnen, wie Jesus als Auferstandener in ihrer Mitte realisiert wird. Nicht als Terminator-Gestalt, der „tabula rasa“ macht mit denen, die nicht in eine bestimmte Linie passen, sondern einfühlsam hinhorchend, jeden und jede in der eigenen Existenz ernst nehmend. Diese Jesus-Gestalt kennt jedes Blöken der Schafe, egal ob schwarz oder weiß. Jedes Schaf hat Vertrauen zu ihm. Dieser Jesus wird in der johanneischen Gemeinde des 1. Jahrhunderts identifiziert mit einem Berufszweig, der in der Hierarchie der jüdisch-palästinensischen Gesellschaft Jesu ganz unten stand, galten Hirten doch im System von „rein-unrein“ als unrein, weil sie den Kontakt mit den Tieren pflegten. In der griechisch-römischen Antike wiederum ist der Hirte wie Hermes der Götterbote, der ein Schaf auf seinem Rücken trägt.

Der, der im Lukasevangelium von den Hirten begrüßt wurde, wird selbst zum Hirten. Er ist nicht kaisergleich, sondern hirtengleich, nicht gegürtet mit Schwert, sondern ausgestattet mit Hirtenstab. Was Hirten immer schon auszeichnete, ist die Verbindung mit der Natur, denn nur so wissen sie, wie sie den Wölfen ausweichen und die Wasserstellen finden können. Jesus wird zunächst nicht einmal als Ackerbauer bezeichnet, weil diese Existenzweise schon stärker auf Besitz von Grund und Boden beruht und damit mit Sesshaftigkeit verknüpft ist. Ein Hirte hingegen war damals unterwegs und verkörpert so eine Nomadenexistenz.

Die Johannes-Gemeinde hat noch weitere Metaphern, um die Auferstehungsexistenz Jesu zu versinnbildlichen. Johannes legt Jesus die Worte in den Mund: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“. Und wieder steckt dahinter Erfahrung, Empirie. Die Erfahrung, dass in der Verbundenheit mit Jesus Christus das Leben gelingen kann. Die Erfahrung, dass das Leben gelingt, wenn wir in unseren Gemeinschaften, in der Kirche, in den Dörfern und Stadtteilen, in den Schulen und Klassenzimmern, in den Fabriken und Arbeitsstätten rebengleich wie ein Team zusammenarbeiten. Solches wird „Frucht“ bringen können. In die heutige Sprache übersetzt könnten die Johannes-Worte lauten: Ich bin der Coach, der euch zu Teamplayern macht, und eure Arbeit wird gelingen. Die Erfahrung mit Auferstehung zeigt, dass Jesusnachfolge ein gutes Leben für alle zum Ziel hat. Dies kann nicht erreicht werden durch Einzelgängertum, durch egoistische Ellbogentaktik, durch Win-lose-Strategien. Die sauren Weinbeeren an den Reben sind die Karrieresüchtigen und jene, die nur auf den eigenen Gewinn achten.

Johannes schrieb für eine Gemeinde, die brutaler Verfolgung ausgesetzt war. Auch heute gibt es noch Millionen Christinnen und Christen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums wurden jene, die sich zu Jesus bekannten, aus den „Synagogen“ ausgeschlossen und mit Steinen beworfen. Von der römischen Zentralmacht wurden Christen und Christinnen gnadenlos verfolgt, die Säulen der ersten Gemeinden wurden umgebracht, Petrus gekreuzigt, Paulus geköpft, Stefanus gesteinigt, die Apostelin der Apostel verdrängt. Trotzdem wuchs die Zahl der Jesusanhänger, weil sie wussten: Seine Botschaft funktioniert. Da gibt es niemanden mehr, der in diesen Gemeinden Not leidet, weil man zu teilen begonnen hat. Da werden die Häuser zu Orten der Gastfreundschaft und das Gerücht über die ersten Christen verbreitete sich im ganzen römischen Reich: Seht, wie sie einander lieben!

Welche Ich-bin-Worte, oder im Polit-Jargon unserer Zeit, welche „Je-suis-Worte“ Jesu entsprächen heute den Erfahrungen von Auferstehung Jesu Christi? Wie würden wir heute, die wir in einem Land leben, in dem es gerade drei Prozent Bauern gibt, und die wir nicht mehr in den Kategorien von „guter Hirte“ und „Weinstock“ denken, das Profil von Jesus wiedergeben?

Ich bin das Rettungsboot für die Flüchtlinge, die bei der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer in Seenot geraten sind. Ich bin die Schülerin, die einer verzweifelten Mitschülerin Nachhilfe in Mathe gibt, damit sie das Klassenziel doch noch erreichen wird. Ich war der Deserteur aus dem Vomperloch, der sich dem Kriegszwang verweigerte. Ich bin die Caritas, die sich der konkreten Not in dieser Gesellschaft annimmt, der größer werdenden Zahl von Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Ich bin die Schwangere, die sich keine Abtreibung einreden lässt, weil ihr werdendes Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen wird. Ich bin die Biobäuerin, die darauf achtet, dass es ihren Tieren gut geht und die Pflanzen ohne Großeinsatz von Chemie wachsen können. Ich bin der Unternehmer, der für ein gutes Arbeitsklima in seinem Betrieb sorgt und auf faire Produktionsverhältnisse achtet. Ich bin die Greenpeace-Aktivistin, die sich an Kampagnen gegen Atomkraftwerke beteiligt und selbst achtsam mit den Ressourcen dieser Welt umgeht, die auf Flugreisen um des Klimas willen verzichtet und selbst vegetarisch lebt. Ich war Bertha von Suttner, die gegen den Krieg anschrieb und sich enttäuscht über die Kriegsbegeisterung in der Kirche zeigte. Ich bin die Krankenschwester, die für die Patienten und Patientinnen stets ein aufmunterndes Wort und liebevolle Pflege hat. Ich bin der Vater, der an seinem störrischen Sohn nicht verzweifelt. Ich bin die Tochter, die Zeit für ihre pflegebedürftigen Eltern hat. Ich bin. Ich bin. Ich bin. … Es gibt dann in der Nachfolge Jesu plötzlich die Abermillionen Varianten vom guten Hirten und jeden Tag wieder neu die Chance, die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nicht sprichwörtlich auf die leichte Schulter zu nehmen, sondern bereit zu sein, Lasten zu schultern, wenn andere darunter stöhnen.

Klaus Heidegger, zum Sonntagsevangelium am 22.4.2018