Ein Gebet zu Maria 

Du Widerspenstige!

„Mirjam“, dein jüdischer Name, er lässt sich übersetzen mit „Widerspenstige“ oder „Ungezähmte“. So bist du gewesen. Widerspenstig gegen all das, was Frauen und Männer und Kinder unterdrückte. Dein Name „Mirjam“ erinnert an die Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten. Jene, nach der du benannt bist, hat gemeinsam mit den beiden Hebammen Schiphra und Pua, ihrer Mutter und der ägyptischen Pharaonentochter den Grundstein zu Befreiung des Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens gelegt. So passt der Name der Schwester des Mose auch zu dir, Mirjam von Nazareth.

Du Rollensprengende!

In der patriarchalen Kultur des ersten Jahrhunderts hast du dich nicht an die Genderrolle gehalten. Gemeinsam mit Mirjam von Magdala und anderen Frauen warst du Teil der Fraugengruppe, die in der Mitte der Jesusbewegung stand. So wirst du auch nach dem Tod und der Auferstehung Jesu beim Pfingstereignis als Frau gesehen, die die Mitte des neuen Gottesvolkes bildet.

Du Religionenübergreifende!

Maryam wirst du im Koran genannt. Dein Name kommt dort öfters vor als in der Bibel. Du bist eine Brücke zwischen den Religionen. Als Mirjam stehst du für den jüdischen Glauben, als Maryam für die Welt des Islam und mit dem griechischen Namen für die christliche Welt.

Du Träumende!

Wenn du als „unbefleckt Empfangene“ verehrt wirst, denke ich daran, dass du uns gezeigt hast, mit deinem Engagement und deiner Liebe, dass eine andere Welt möglich ist, dass wir ausbrechen können aus den teuflischen Spiralen, dass wir uns befreien können von den Zwängen, dass Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten ist, dass Feindschaft mit Vergebung und Versöhnung aufgelöst werden kann.

Du Himmlische!

Als in den Himmel Aufgenommene öffnest du mir den Blick in die Himmel, ohne diese Welt zu vergessen. Das Aufgenommen-in-den-Himmel lenkt mich nicht ab vom Irdischen, sondern lässt die Himmel im Hier und Heute erkennen, lässt mich danach sehnen, dass ein Stück des Himmels lebendig wird, wo ich lebe. Mit Haut und Haaren – so heißt es im Dogma – bist du aufgenommen im Himmel, mit deiner ganzen Leiblichkeit. Das passt zu dir und meiner Sehnsucht: Kein manichäisches Trennen von Geist und Leib, kein gnostisches Verachten all dessen, was mit Körper verbunden ist. Das taugt als politisches Programm gegen all die Vertröstungen und Weltflüchte.

Du Gottgebärende!

Du bist die Mutter Jesu, Mutter des Heilands, und doch sehe ich dich für mich bewusst nicht in der Mütterlichkeit, weil ich nicht dein Kind bin, weil ich auf Augenhöhe mit dir sein möchte, dich von den überhöhten Altären herunter in diese Welt holen möchte, dich befreien vom Gold und Silber und den schweren Gewändern, von Sternenkränzen und Kronen und vor allem vor der Vereinnahmung durch kriegerische Machthaber, von Männern, die bis zum heutigen Tage in Soldatenuniformen und mit Waffen in den Händen ihre Gelöbnisse vor dir sprechen.

Du jüdisch Glaubende!

Ich sehe dich als jüdische Frau, voller Träume nach einem erfüllten Leben und jener Hoffnung auf das messianischen Friedensreich, die von Prophetinnen und Propheten formuliert worden ist. Zu dieser Hoffnung hast du dein „es möge geschehen“ gesprochen. Wie jede fromme Jüdin hast du an den Schalom geglaubt. Je mehr Unfrieden und Ungerechtigkeit zu deiner Zeit erfahrbar waren, desto stärker wurde zugleich dieser Traum umgemünzt in politischen Widerstandsgeist. Diesen Traum hast du in deinem Sohn groß werden lassen. „Jehoschua“ hast du ihn selbst genannt, „Gott rettet“.

Du Liebende!

Als Mädchen schon wirst du damals mit einem Mann verlobt worden sein. So sahen es Bräuche, Gesetze und Kultur vor. Du hattest Glück mit deinem Verlobten. Josef ist zu dir gestanden, als du, die Erniedrigte, viel zu jung schwanger geworden bist. Der Bauhandwerker aus Nazaret hat dich nicht verstoßen, weil er verliebt war in dich, weil er dich liebte, weil er wie du an die Botschaften der Engel glaubte. Solidarität als Wurzel der Befreiung wurde in eurer Liebesbeziehung sichtbar. Auch in Elisabeth, die dir Deckung gab, hattest du frauensolidarische Stütze. So konnte dann in deinem Leib jenes Kind groß werden, das als Retter der Welt, als Heiland, als Menschensohn, als Messias, ja sogar als Sohn Gottes gilt.

Du Rebellin!

Du warst in den Augen der Mächtigen, der römischen Besatzer und ihrer Kollaborateure eine Rebellin. So hast du gesungen: „Die Mächtigen stürzt er vom Thron und erhöht die Erniedrigten … die Verarmten wird er beschenken und die Reichen werden leer ausgehen… “ Es war das revolutionäre Wiegenlied für deinen Sohn.

Du Missverstandene!

Die Mächtigen haben im Laufe der Jahrhunderte etwas anderes aus dir gemacht. Man behauptete, du hättest Könige zu grausamen Schlachten ermutigt. So wurdest du instrumentalisiert als Aufruf zum kriegerischen Gemetzel. In der Gegenreformation wurdest du hierzulande als Magna Mater Austriae zur „Generalissima“ umfunktioniert und unter deinem Schutz geschah die Zwangskatholisierung. Du wurdest mit dem Epitheton „Siegerin in allen Schlachten“ versehen. Du Maryam, die von den Muslimen verehrte Mutter des Propheten und Gesandten Isa, wurdest zur Galionsfigur im Kampf gegen Muslime. Du wurdest mit dem Titel „Jungfrau“ versehen. So hat man dich unter dem falsch verstandenen Mythos als Inbegriff einer Sexual- und Leibfeindlichkeit missbraucht. Mit dir verbunden wurde das Wort „unbefleckte Empfängnis“ und wieder wurden damit sexualfeindliche Konnotationen geweckt. Man hat dich in weiß-blass-bläuliche Statuen gedrückt und damit jegliches ganzheitliches Leben aus dir gepresst.

Du Botin der Zärtlichkeit Gottes!

Heute sage ich: Du bist, wie es Martin Luther formulierte, keine Generalissima, die zu Schlachten ermutigt, sondern die „zarte Mutter Christi“ und Botin jener Zärtlichkeit Gottes, von der Papst Franziskus in seinen Worten immer wieder spricht. Du trittst aus den Bildern und von den Altären und bist mir Schwester im Glauben mit deinem subversiven Gesang, wie es einst Kurt Marti formulierte. Du ermutigst auch mich zu träumen von einem Leben in Fülle und Ganzheit.

Klaus Heidegger, zum Fest Mariä Empfängnis 2019

(Bild: Die Baumfrau – volksreligiöses Marterl in Gnadenwald)