Verordnung und Vernunft

Vernunft und gebildetes Gewissen als Maßstab

Kaum lassen Verordnungen nach – und es ist gut, dass weniger verordnet wird – schwindet auch die Vorsicht – und das ist nicht gut so. Es erscheint nun so, dass vorsichtig gehandelt wird, weil es verordnet ist, nicht weil es die Vernunft und das eigene Gewissen gebieten. Ist Covid-19 weniger gefährlich geworden? Gibt es keine Infektionsgefahr mehr? Manchmal fühle ich mich wie in einem Obrigkeitsstaat und unter lauter obrigkeitsstaatlichen Menschen. Zwei Monate lang wurde uns gesagt und verordnet „stay at home“.

Öffnungen als positives Signal

Es ist gut, dass ein normales Leben unter den bestimmten Hygienemaßnahmen und mit Abstandsregeln wieder möglich ist. Es ist gut, dass sich die Schulen etappenmäßig und „ausgedünnt“ wieder öffnen, dass Gasthäuser nicht mehr geschlossen sind und Geschäfte wieder geöffnet sein dürfen. Es ist gut, dass der Angstlevel vor Covid sinkt und die Schreckensnachrichten verschwinden. Es ist gut, dass der Lockdown beendet und viele menschliche Kontakte wieder möglich geworden sind. Es ist gut, wenn wieder sichtbar wird, dass Glaube auch mit körperhafter Gemeinschaft zu tun hat und in öffentlichen Feiern seinen Ausdruck findet.

Vorsicht muss bleiben

Die Gefahr von einer zweiten Infektionswelle ist allerdings geblieben. Noch wissen wir zu wenig über das Corona-Virus, um Entwarnung zu geben. Doch sagt uns eigentlich die Vernunft: Was sich vermeiden lässt, soll vermieden werden. Damit meine ich nicht eine einsame Bergtour – bei der ich in den letzten Wochen weder zur Gefahr für andere geworden bin noch mich selbst hätte anstecken können. Damit meine ich nicht die geschlossenen Grenzen und die Milizsoldaten, die diese bewachen. Cui bonum? Damit meine ich aber so manches nun stattfindende Event. Muss es wirklich sein, solange die Ansteckungsgefahr noch so groß ist? Welches Zeichen setzen nun auch Kirchen und Religionsgemeinschaften? Mahnen sie zur vorsichtigen Geduld und schöpfen weiterhin Kraft von einem Erleben von dem, was als Hauskirche bezeichnet werden könnte? Oder sollen sich möglichst schnell die Kirchen füllen? Nicht weil es eine Verordnung gibt, werde ich noch nicht an Kundgebungen teilnehmen, sondern aus Vorsicht, egal ob es jetzt Fridays for Future ist oder eine öffentliche Kundgebung für Frauenrechte in der Kirche. Fix ist, dass die Gefahr zur Verbreitung des Virus sich durch größere Versammlungen wieder erhöhen wird.

Vorsichtige Kirchen

Ich würde mir jedenfalls von den Kirchen wünschen, sie würden in dieser Zeit noch vorsichtig sein – und jetzt formuliere ich zynisch: Es kann nicht darum gehen, möglichst schnell wieder die Schäfchen in der Kirche zu versammeln. Ansonsten könnte es rasch dazu kommen, dass die Schafherde angesteckt wird. Auch wenn es zunächst vor allem symbolisch ist, könnten die Kirchenverantwortlichen in dieser Zeit noch sagen: Stay at your home-church! Dort, wo mit Liebe das Brot  und das Leben geteilt werden, ist der Auferstandene real gegenwärtig (manchmal mehr als in einer Kirche). Welches Image hätte eine Kirche, die sagte: Selbst wenn alle Möbelhäuser längst schon offen haben und sich in den Einkaufszentren wieder die Massen drängeln, wir mahnen zur Vorsicht, solange Epidemiologen und Virologen nicht Entwarnung geben.

Drive-in-Gottesdienste?

Welche Bilder werden in diesen Corona-Zeiten seitens der Kirche vermittelt? Sind Drive-in-Gottesdienste ein Zeichen für eine Organisation, die sich für die Bewahrung der Schöpfung einsetzt, oder sollte die Kirche nicht vielmehr signalisieren: Versucht möglichst wenig mit den Autos zu fahren, weil die Erderhitzungskurve weit gefährlicher ist als die Covidkurve? Passt ein Film von „Otto Neururer“ wirklich zu einem Autokino oder steht dieser Selige aus Tirol nicht vielmehr für einen Geist des Widerstands gegen das Zerstörerische. Kann ich gleichzeitig ein „Laudato-Si-Jahr“ ausrufen und der Automobilität unkritisch gegenüber stehen?

Kirche bei den Schwächsten

Zum Glück wurde in den letzten Wochen auch eine andere Kirche erlebbar. Damit meine ich nicht nur die kleinen Kirchenerfahrungen in familiärer Atmosphäre, die geöffneten Kirchengebäude, wo man verweilen konnte und vielleicht sogar die vorbereitete Predigt des Sonntagsevangeliums mit nach Hause nehmen konnte. Damit meine ich beispielsweise die so unverzichtbare Arbeit der Caritas gegenüber jenen Menschen, die im Schatten der Corona-Krise besonders arm dran waren. Hier wird eine Kirche sichtbar, die wohl ganz zu ihrem Gründer passt, der sein Herz stets bei den Schwächsten hatte. Daher gilt es weiterhin für die Kinder und Jugendlichen, die nun in die Schule gehen: Aufpassen – Abstand halten – Hygienemaßnahmen einhalten, um jene in der Gesellschaft zu schützen, die schwächer dran sind und durch das Corona-Virus gefährdet sind (von Risikogruppen möchte ich dennoch nicht schreiben).

Klaus Heidegger