dornengekrönt

die Mächtigen machten eine Krone aus Dornen
und höhnten spöttisch
„König der Juden“

zynische Worte werden zu Dornen
verletzen den Körper
verletzen die Seele

Jesus schloss die Augen
spiegelte die zynischen Worte nicht wider
stoppte den Kreislauf von Gewalt im eigenen Sein

es geschah nun das Wunder
zur Krone wird der Kranz aus Dornen
Erlösung aus Gewaltzirkeln geschieht

klaus.heidegger, 7. Juli 2021

Ecce Homo – Teil 2:

Seit meinem letzten Blogeintrag mit dem Gedicht „gefesselt“ (http://www.klaus-heidegger.at/?p=6485) war ich wieder mehrmals bei der Skulptur „Ecce homo“ im Innsbrucker Dom. Den Domwärterinnen und Domwärtern scheint es nicht so zu gefallen, wenn ich mit Schülerinnen und Schülern achtsam um diese Statue stehe und mit ihnen versuche herauszuarbeiten, was sie uns mit Blick auf die Leidensgeschichte Jesu und unsere eigenen Erfahrungen mit Leid im Heute – persönlich wie politisch – sagen könnte. Es ist gerade die prägnante Einfachheit von diesem Kunstwerk, das uns zur Wesensmitte unseres Glaubens hinführt.

Wer diese Skulptur zum ersten Mal sieht, weiß sofort: Aha, das ist Jesus und keine Schaufensterpuppe, die hier im Dom abgestellt wurde. Sein Erkennungszeichen ist die Dornenkrone. Ich habe schön öfters beobachtet, dass die vielen Touristengruppen, die durch den Dom geführt werden, dieses Kunstwerk gar nicht wahrnehmen. Sie sind fixiert – oder werden vielmehr fixiert – auf das gegenüberliegende prunkvolle Grabmal eines kriegerischen Deutschordensritters. Dort wird letztlich Gewalt verherrlicht und legitimiert. Im Dornenkronenjesus geschieht die Überwindung von Gewalt.

Ein Mensch aus der Vielzahl von Menschen wird plötzlich durch eine goldene Krone auf dem aufrechten Haupt zu Jesus. Das Besondere an dieser Krone ist, dass sie aus kostbarem Gold gefertigt wurde. Es ist ein Stacheldraht, wie er benützt wird, um Menschen heute in Lagern zu halten und vom Flüchten abzuhalten. Ein solcher Stacheldraht findet sich auch am Otto-Neururer-Altar im Innsbrucker Dom, wo er um die „Kerze der Hoffnung“ gewunden ist, die an die zu Unrecht Gefangenen in unserer Welt erinnert.

In der Reaktion von Jesus auf die erlittene Gewalt verliert letztlich die Gewalt ihre Spitzen und Macht. Was purer höhnischer Zynismus des Despoten Pilatus war, „Seht, den König der Juden!“ wird zum still-wirkmächtigen „Du sagst es!“. Jesus selbst erweist sich mit seiner goldenen Krone als „Christkönig“ ganz ohne Gewalt. Nicht die Gewalt wird inthronisiert, sondern die Gewaltfreiheit.

Im Alltag erfahren wir immer wieder die Stacheln, die wie Dornen sind. Es ist vor allem der Zynismus, der unsere Seele verletzt. Anstatt sachliche Kritik zu üben, die zu einem Dialog führen könnte, werden zynische Kommentare gemacht. Da bemüht sich ein Schüler, gut zu sein, und er hört von einem Mitschüler abfällig: „Seht, unser Klassenstar!“ Da wird etwas nicht ganz sauber zurückgelassen und du bekommst ein WhatsApp mit der Bemerkung „Danke für die Unordnung“. Und wie oft erleben wir selbst im intimen Bereich von Beziehungen zynische Kommentare, die dann besonders schmerzen. Zynismus zählt zu den beliebtes Waffen in Mobbing-Situationen.

Jesus war auf seinem Weg – bis zum Ende – nicht allein. Woher hatte Jesus die Kraft, die Augen zu schließen und nicht selbst zynisch zu werden? Was ließ ihn so gerade vor Pilatus stehen und sich nicht gebeugt und winselnd zu verhalten? Die religiös-geprägte Standardantwort kommt oft zu schnell heraus. Es ist Gott, der ihm die Kraft gab. Eine solche Antwort genügt mir schon lange nicht mehr, wenn sie nicht gefüllt wird mit der Antwort auf die Frage, wer Gott ist. Auch da geben uns die Bibel und die Tradition der Passionsgeschichte eine Antwort. Die Gottkraft liegt wohl in jenen Menschen, die Jesus bis ans Ende begleiteten. Vielleicht denkt Jesus mit seinen geschlossenen Augen an Maria Magdalena und an die Erfahrungen des gemeinsamen Unterwegsseins, an Veronica und seinen Lieblingsjünger, die durchgehalten haben bis zuletzt. Ich stelle mich mit meinen Schülerinnen und Schülern um die „Ecce homo“-Statue – und wir werden so Teil eines Geschehens, das bis zum heutigen Tag andauert.

Klaus Heidegger, 7. Juli 2021