Zugbegleiter: Geschichten von Engeln: Teil 5

Wieder einmal war er mit dem Zug unterwegs. Wie so oft in seinem früheren Leben. Unterwegs zu irgendeiner Sitzung irgendwo in Österreich. Die Radabstellflächen am Bahnhof waren wie üblich überfüllt. Irgendwo fand er noch einen Platz in zweiter Etage. Im Zug setzte er sich meist in den allerletzten Wagon. Da war die Chance am größten, ungestört arbeiten zu können, sich auf die Sitzung vorzubereiten und den eigenen Gedanken nachzuhängen. Doch heute wurde nichts daraus. Am Platz gegenüber saß gegen die Fahrtrichtung wieder sein Engel und sah ihm in die Augen, wie nur Engel in die Augen schauen können. „Guten Morgen!“, sagten sie diesmal gleichzeitig, so als wäre es ganz normal, sich zu begegnen. Der Schaffner wunderte sich ein wenig, mit wem der Reisende scheinbar redete, als er den QR-Code der Karte scannte. Engel sind ja nur sichtbar für die Person, die daran glaubt. „Wohin fährst du?“, war die rhetorische Frage des Begleiters. Und dann begann der Mann wieder zu erzählen von dem, was ihn seit seiner Jugendzeit anspornte. „Ich hatte in mir immer das Gefühl, die Welt retten zu wollen. Früher war es das Engagement gegen die sterbenden Wälder. Selbst versuchte ich so zu leben, dass der ökologische Fußabdruck möglichst klein blieb. Von Erderhitzung und Klimawandel hat damals noch niemand gesprochen – doch ich hatte die Warnung des Club of Rome im Kopf und im Herzen. Wenn die Menschheit so weitermacht wie bisher, wird sie in einem ökologisch-sozialen Kollaps landen. Ich war bei unzähligen Demonstrationen und organisierte auch solche und später war ich wochenlang engagiert, als eine Partei gegründet wurde, die meinen politischen Ansprüchen gerecht zu sein schien. Ich wollte auch die Kirche verändern, hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Sie sollte ihren prophetischen Ansprüchen der Gewaltfreiheit gerecht werden. Den Verantwortlichen der Kirche hatte es nicht gefallen.“ Während er redete und der Engel zuhörte, schauten sie die vorbeiziehenden Berge an, auf denen noch weißglänzend der Schnee lag. Lieber wäre der Reisende da oben gewesen als unten im Zug. Zu viele Tage seines Lebens hatte er verbracht in Zügen, auf Sitzungen und mit Terminen in seinem missionarischen Eifer, die Welt zu retten. „Mein eigenes Leben habe ich aber nicht wirklich retten können“, sagte er dann traurig. Die Felder und Wiesen hatten bereits ein Frühlingskleid übergestreift. „Magst du mir dein Frühlingsgedicht vorlesen?“, fragte der Engel, und verriet sich dabei, dass er dieses Gedicht bereits auf der Website gesehen haben musste. Aber Texte werden ohnehin erst dann richtig verständlich, wenn sie laut gelesen werden. „Magst du es mir vorlesen?“, fragte der Mann den Engel – und er tat es gerne. Schließlich war darin auch von ihm die Rede.

frühlingshaftes Wachsenkönnen

Was lässt das Schneeglöckchen erblühen?
Es sind die wärmenden sonnigen Strahlen
und es ist die Kraft in sich selbst,
es sind die ersten Regentropfen
und es ist die Zwiebel in der Tiefe der Erde.

Kein Wachsen ohne die Impulse von außen.
kein Wachsen ohne die Energie in sich selbst:
die beiden Kräfte sich brauchen
wie eine Antwort auf eine Frage,
wie eine Hilfe auf eine Bitte.

Einem Schneeglöckchen gleicht das Leben:
ohne die wärmenden Sonnenstrahlen menschlicher Nähe
und ohne die Kraft und Sehnsucht tief drinnen im Menschen:
das Leben bliebe im Winter
der Frühling wäre nicht da.

Was lässt die Hasel in Fülle erblühen?
Es ist der wärmende Wind des Frühlings
und es ist die Natur im Wesen der Pflanze,
es sind die länger werdenden Tage
und es sind die kräftigen Wurzeln der Staude.

Einer Haselstaude gleicht unser Leben:
ohne den wärmenden Wind menschlicher Nähe
die Lust und Freude am Leben wären nicht da,
ohne auf eine frühlingshafte Melodie zu hören
die Träume würden verstummen.“

Viel zu schnell war die Zugfahrt vorbei. „Ich will noch nicht aufhören, an meinen Traum zu glauben … noch nicht“, sagte sich der Reisende wie ein Mantra vor.

Klaus, Samstag, 26.3.2022