Tag 1: Eine Meeresbiologie-Exkursion auf die sorrentinische Halbinsel begleitend

Freitag, 1. Juli 2022

5.51 Uhr an einer Raststätte irgendwo entlang der Autostrada del Sole. Sonne? Was soll dieser stinkend-lärmende Blech-Lkw-Wurm mit Sonne zu tun haben? Welch unpassender Euphemismus! Zwischen Lkws parkt der Bus auf dem zweiten Stopp seit der Abfahrt in Volders. Die wirkliche Sonne geht auf. Ich begrüße sie gerädert von der Fahrt, in der ich schwer träumte, wenn ich gerade schlief. Halbstündige Pause. 7a-Klasse. 23 Schülerinnen und Schüler. Es ist eine besondere Klasse. Lauter besonders liebenswerte Individuen, die miteinander zugleich Gemeinschaften sind.  Um 22.00 Uhr sind wir gestern von der Schule  weggefahren. Es ist der zweite Stopp. Eine volltätowierte Frau sitzt im Shop zwischen den hässlichen Produkten, in denen Industrienahrung schreiend-grell plastikverpackt ist. Am Rande vom Parkplatz entdecke ich einen Baum mit kleinen gelben Früchten. Steinobst. Ringlotten. Unverpackt. Sie sind unbeachtet und schmecken wunderbar, nachdem ich den Staub von ihnen gewischt habe. Geschenk des Himmels. Ich lege sie in die Hände einer Schülerin, die ein Gefühl für die Natur und das Natürliche hat und sich dafür im Rahmen von Fridays for Future einsetzt. Auf der Raststätte davor irgendwo in der Po-Ebene um 2.00 nachts hatte ich mit ihrer Freundin ein nächtliches Gespräch über Tiertransporte. Es stank danach. Wenn es da einen Schweinelaster gegeben hätte, hätten wir sie befreien wollen. Es wird Tag. Goldgelb leuchten die frisch abgeernteten Weizenfelder in der Morgensonne und stehen in schönem Kontrast zu den grünen Obstplantagen. Manches Feld legt sich wie eine Decke sanft auf die Abhänge der Hügel. Die Köpfe von Sonnenblumen sind zur Sonne ausgerichtet, als würden sie diese zum neuen Tag und neuen Monat begrüßen.  Kleine Städte und Dörfer sind auf den Kuppen der Hügel. Auf einem grünen Ausfahrtsschild steht „ORVIETO“. Die müden Gedanken schweifen ab zu einer Fahrt vor langer Zeit: mit wenig Geld, draußen irgendwo schlafend, aber das Herz voll Sehnsucht, diese Welt zu einer besseren zu machen. Irgendwo fahren wir dem Tiber entlang, der hier ein kleiner Bach ist und scheinbar steht. Lkws im Sekundentakt in beide Fahrtrichtungen. Im herrschenden Wirtschaftssystem läuft so vieles falsch. Zum Glück sind die Benzin- und Dieselpreise inzwischen deutlich über zwei Euro. Strohballen sind auf den Weizenfeldern: wie große Räder, die in einem Land-Art-Projekt verteilt wurden. Meine letzte Fahrt von Innsbruck nach Rom war mit Rennrädern und meiner Nichte. Unsere Strecke mit den Rädern war freilich um so vieles intensiver, abwechslungsreicher. 8.34 Uhr. Die Autobahn ist dreispurig geworden. Der grüne Überkopfwegweiser zeigt die Ausfahrt nach Rom-Ost und geradeaus nach NAPOLI. Vor kurzem hatten wir bei der letzten Raststätte das, was in Italien als Frühstück bezeichnet wird. Ein Cappuccino und ein fettiges Croissant. Zum Glück bestellte ich eines ohne Füllung. Das Baguette schmeckte dagegen besser. Ich habe mir vorgenommen, wie gewohnt meinen ökologischen Fußabdruck klein zu halten. 10.00 Uhr. Eine Abzweigung ginge nach Monte Cassino. Eine Abfahrt zu einem der bedeutsamsten Orte der abendländischen Geschichte ist nicht eingeplant. Ich denke an den Hl. Benedikt von Nursia und seine Gefährten, denen es gelang, parallel zu einer sich mehr und mehr zur Machtkirche entwickelten Kirche ein anderes Modell von Kirche mit Gemeineigentum und Kommunität vorzuleben. Ich denke aber auch an die Brutalität des Krieges und die Art und Weise, wie das Kloster von den Alliierten durch einen Luftangriff am Ende des Zweiten Weltkrieges vollkommen zerstört worden ist. Es war eindeutig ein Angriff auf eineunbewaffnete Zivilbevölkerung und die schrecklichen Bilder des Krieges in der Ukraine flashen durch meinen Kopf. Vor Neapel. Die Berghänge sind vertrocknet und baumlos. Es wird zunehmend heißer. Ich spüre und fühle die Zerstörung unserer Welt und bin Teil davon. Von extremer Hitze schrieben die Medien in den letzten Wochen mit Blick auf Südeuropa, von Dürre und Wasserknappheit auch in Süditalien. Wo nicht beregnet oder bewässert wird, sind die Felder staubtrocken. Stau auf der sechsspurigen Autobahn vor Neapel. Man lebt, als gäbe es keine Klimakatastrophe. Wie Lemminge, die dem Abgrund entgegen sausen. Nein! Ich sehne mich nach den einsam-ruhigen Plätzen in meinen Bergen daheim. Neapel in seinen Außenbezirken. Das gesamte Gebiet um Neapel hat vier Millionen Einwohner, die Stadt selbst knapp eine Million. Weit hinauf bis an die Hänge des Vesuvs auf der einen Seite und bis zur Küste reicht das Siedlungsgebiet. Häuser, die einmal vor Jahrzehnten gebaut wurden und seither wohl nie renoviert worden sind, mehrspurige Autobahnen, wo der Verkehr giftig kriecht, Satellitenstädte und Industrieanlagen. Der Vesuv im Osten der Stadt hat zunächst nicht die klassische Form eines Vulkankegels. Vor unserem Ziel türmt sich ein Küstengebirge auf. Die Straße geht durch Betonröhren und dann wieder hinauf auf die Anhöhen. Radfahren wäre hier nicht angenehm. Die Tunnel riechen nach den giftigen Abgasen. An der Küste sind die Straßen durch die Städte wie ein Flaschenhals, wo zum Teil nichts mehr geht. Auf der Suche nach der richtigen Straße irrt der Busfahrer herum. Das Navi versagt. Irgendwo ist eine Straßensperre, dann wieder Durchfahrtsverbote für Busse. Abertausende Moped-, Roller- und Motorradfahrer schlängeln sich um die Autos. Millimeterfahrt für den Busfahrer. Von einem Bergrücken wird der Golf von Neapel besonders schön sichtbar. Unser Ziel liegt auf der sorrentinischen Halbinsel, die den Golf von Neapel und den Golf von Salerno abtrennt. Die Städtchen und Dörfer bieten kaum Platz für den Bus zum Durchkommen. Die meeresbiologische Station, die nun eine Woche lang unsere Station sein wird, liegt im Feriendörfchen Nettuno in Marina del Cantone direkt an der Küste. Es wird 14:30 Uhr, bis wir ankommen. Vierzehneinhalb Stunden im Bus. Die Schülerinnen und Schüler waren tapfer. Kein Murren von ihrer Seite. Ich lasse mich vom Meerwasser tragen, lasse mich zwischen den Felsen treiben, nehme das Salz wahr auf meinen Lippen. Das Wasser ist warm wie in einer Badewanne. Angekommen in der Weite des Meeres. Mittelmeer.