Von Runden mit dem Rennrad und Begegnungen mit Kultur-Landschaften und Menschen in Überetsch-Unterland

Von Kraft und geschlossener Hoffnung

Schon am Bahnhof von Innsbruck begegnet mir zu früher Stunde die Welt in ihrer Brüchigkeit und Verletzlichkeit. Eine Obdachlose schläft umgeben von ihren Plastiksackerln, den Kopf auf ihren Knien, in einer Nische, die es doch noch irgendwo im Bahnhofsbereich gibt. Die Security ist damit beschäftigt, die Dutzenden von Flüchtlingen im Auge zu behalten, die sich in der Schalterhalle aufhalten. Es sind lauter junge Männer aus Afghanistan, Pakistan oder aus den Maghreb-Staaten, so meine Vermutung. Der Tiroler FPÖ-Chef würde sich mit seiner populistischen Flüchtlingshetze bestätigt fühlen. Es sind nicht diese jungen Männer, die mir Angst machen, sondern eine Politik, die dazu führt, dass sie überhaupt fliehen müssen, und eine Politik hierzulande, die ihnen wohl keine Perspektive geben wird. Ich verstehe nicht, warum viele von diesen Flüchtlingen den ersten Zug auf den Brenner nehmen. Die Handys scheinen ihnen Orientierung zu geben. Im Zug in Italien gilt noch Maskenpflicht. Anders als in Österreich ist hier scheinbar die Pandemie noch nicht für beendet erklärt worden. Bahnhof Bozen. Das Rennrad steht bereit vor einer klassizistischen Statue – einer Allegorie weiblicher Kraft und Energie. Ein guter Startpunkt. Wenn ich allein mit meinem Rad unterwegs bin, sauge ich stets Begegnungen in mich auf – seien es eben Statuen oder Landschaften oder Kirchen oder auch Menschen und manches geht tief bis in die Seele hinein. Das kann auch eine geschlossene Essensbude sein, die an der Ausfahrtsstraße von Bozen steht. „Speranza“, so heißt sie. Speranza geschlossen, so denke ich mir. Ich kenne meine Route, über die Etsch, bei Sigmundskron vorbei, die alte Bahntrasse hinauf nach Eppan mit Panoramablicken über den Bozner Talkessel. Bewusst mache ich noch einen kleinen Umweg nach St. Michael, mache Rast, ohne körperlich müde zu sein, am Marktplatz und vor der spätgotischen Kapelle St. Anna.

Von einem ekstatischen Fräulein und einer mystischen Leidensfrömmigkeit

In der Pfarrkirche von Kaltern liegt eine kleine fast druckfrische Broschüre über Maria von Mörl, auf deren Lebensgeschichte ich bereits einmal durch meine Historikerin-Schwester aufmerksam gemacht worden bin. Ich lege meinen knallgelben Rennradhelm neben mich auf die Bank und beginne zu lesen: „1833 prüfte sie Gott mit ungewöhnlichem Leiden, dies er ihr aber schon seit dem Jahre 1832 mit der Gabe der Ekstase und des beschaulichen Lebens belohnte. Am 5. Februar 1834 beschenkte sie der Herr mit den Hl. Wundmahlen (sic). … Seit Mitte September des Jahres 1867 heimgesucht, nahm endlich der göttliche Bräutigam diese reine und vielgeprüfte Braut zu sich, …“ „Nein!“, möchte ich in die leere Kirche rufen. Und wie als Antwort gegen eine leibfeindliche Religiosität schaue ich auf das Deckengemälde in der Apsis. Es stellt in barocker Prunkmalerei die Aufnahme Marias in den Himmel dar. Maria – leiblich in den Himmel aufgenommen. Der Leib, der Körper mit all dem, was uns lebendig sein lässt, hat mit „Himmel“ zu tun. Nie und nimmer darf daher der Körper, der Leib, verletzt, niedergemacht, klein geredet werden. Es gibt keinen Gott, der hätte gewollt, dass Maria von Wörl mit Wundmalen gequält worden wäre. Wo der Leib nicht ernst genommen wird, wird der Erfahrungsraum des Göttlichen eingeschränkt. Wo ein Mensch in seiner Körperlichkeit verletzt wird, wird göttliches Gesetz missachtet.

Von einer Kirche, die sich ändert

Meine Blicke schweifen in der Kirche herum, in der ich alleine bin. Mein Rennrad habe ich hinten zum großen marmornen Taufbecken gestellt, wo Maria von Wörl 1812 getauft worden ist. Die Kalterer Pfarrerkirche lässt heute im Inneren nur wenig mehr von den gotischen und spätmittelalterlichen Ursprüngen erahnen. Selbst die gotischen Pfeiler wurden stukkiert, um sie an eine barocke Umgebung anzupassen. Die Fresken erinnern mich an jene von der Karlskirche, meiner Schulkirche, die von Martin Knoller angefertigt wurden. Tatsächlich war in der Kalterer Kirche Joseph Schöpf als Maler tätig, der als Schüler von Knoller seine Kunstfertigkeit in barocker Kirchenmalerei lernte. Über mir ist das große Deckenfresko, das die blutrünstige Szene darstellt, wie der Heilige Vigil mit Schuhen und Steinen von den Bauern erschlagen wird, weil er die Statue von Saturn vom Sockel stürzte. Als Bischof von Trient, als Märtyrer und Heiliger ist er so etwas wie der Lokalpatron von Südtirol und vom Trentino. Zum Glück zeigt die Erschlagung des Vigil im Deckenfresko keinen Blutstropfen auf seinem hellblauen Märtyrerkleid. Kein Mensch soll mehr erschlagen werden – so sollte die Message lauten, und ich denke an den Krieg in der Ukraine, der nicht aufhören will.

Von einer Maria auf der Säule und dem Marktplatz von Kaltern

Der Hochsommer hat in die Touristenorte im Raum Bozen Leben gebracht. Die ersten Cappucinos werden in den Kaffees rund um die Mariensäule getrunken. Maria blickt hoch oben auf die Kirche, in der ich soeben war, auf den mächtigen Turm, der an die gotische Ursprungskirche erinnert, und vor allem auf das Geschehen, wo Religion hautnaher und tiefer gelebt wird als in der leeren Kirche, auf die sie blickt. Hier  sind an diesem Morgen Menschen, die Zeit finden, um miteinander zu reden und so das Leben zu tauschen. Religion findet in Begegnung und Anteilnahme statt. Es sind die Kellnerinnen, die den Cappucino oder das Croissant dazu servieren. Religion ist immer Dienst und Fürsorge.

Kalterer See

Meine Fahrt heute ist ohne Stress. Ich lasse mich einfach anziehen von den Landschaften und wähle den Radweg hinunter zum Kalterer See und weiter nach Auer. Noch einige andere Rennfahrer nützen die Vormittagszeit. Die Trauben haben schon kräftige Farben bekommen. Nicht mehr lange, dann wird das „Wimmern“ beginnen, wie es die Locals hier nennen. Unten im Etschtal fahre ich an Apfelkisten vorbei, die sich wie ein Hochhaus auftürmen. Zwei Wochen früher als sonst, so habe ich gehört, beginnt heuer die Apfelernte bei manchen Sorten. Ich fahre den Apfelplantagen entlang, wo schon kräftig die Äpfel geklaubt werden. Ich bremse dort ab, wo eine Freundschaft mit Menschen lebendig bleibt, die mittendrin in diesem Geschehen sind.