Mirjam ohne Krone und Zepter

Nach einer Berg- oder Radtour setze ich mich gerne in eine der vielen Kirchen der Stadt, in der mein Wohnsitz ist, den ich als „derzeitig“ definieren könnte. Dann lasse ich den diesseitigen Raum mit seinen jenseitigen Botschaften auf mich wirken: ein Bild oder eine Statue gibt es meist, an denen meine Gedanken und Gefühle hängen bleiben, die zum Gebet, zur Klage oder zum Lob werden.

Das Fest Maria Königin, das eine Woche nach dem Fest Mariä Himmelfahrt gefeiert wird, und der Gedenktag an Pater Franz Reinisch, der vor 80 Jahren als Wehrdienstverweigerer hingerichtet worden ist, führt mich nach der rasanten Rennradabfahrt vom Finstertaler Stausee im Kühtai auf 2349 Meter hinunter zu Wiltener Basilika auf 540 Meter. Sie liegt schon etwas abseits vom Gedränge in der Altstadt, in der sich die touristische Masse als zäher Fluss zwischen den Gastgärten rund um das Goldene Dachl hin- und herschiebt. Ich bin sogar alleine in der großen, weiten Kirche – allein und irgendwie auch einsam. Es ist jedenfalls ein Status, der offen sein lässt. Gefüllt von den vormittäglichen Eindrücken vom Sellraintal und den Stubaier Alpen können Körper, Herz und Seele etwas Ruhe finden. Der Geist schafft es nicht. Die Kirche riecht nach Weihrauch, der noch zart-weiß sichtbar ist im Sonnenlicht, das durch die großen südwestlichen Fenster ins Innere kommt.

Der Blick wird hingezogen auf das kleine Gnadenbild, das in der Mitte des Hochaltars zwischen den vier Marmorsäulen ist, die den Baldachin mit einer überdimensionalen Krone tragen, und das von einem zweischichtigen goldenen Strahlenkranz eingerahmt wird. Die kleine Sandsteinfigur soll auf das frühe 14. Jahrhundert zurückgehen. Die Gottesmutter als Königsmutter auf einem Thron – ein frühes Marienbild, das ihre königliche Natur versinnbildlicht. Die Krone und das Zepter bekam sie erst im späten 19. Jahrhundert dazu.

Wer ist Mirjam von Nazareth für mich heute, frage ich mich. Ich möchte ihr in die Augen schauen, die vielleicht braun oder haselnussbraun wären, wie jene der meisten palästinensischen Frauen heute. Dazu müsste sie aber hinunter geholt werden von der Höhe der Altäre, in die sie emporgehoben wurde. Erst kürzlich sah ich das berühmteste Marienbild von Innsbruck aus nächster Nähe, jenes von Lucas Cranach aus dem Innsbrucker Dom, als es wegen Renovierungsarbeiten hinunter geholt wurde. Ich sah dann die etwas braunen Ränder der Fingernägel von Maria, gerade so, als hätte sie gerade mit ihrem Sohn in der Erde gespielt. Aber das ist eine andere Geschichte. Heute möchte ich Maria das Zepter aus der Hand nehmen und die Krone vom Kopf. Das Bild von „Königin“ passt für mich mehrfach nicht, weder theologisch-philosophisch, noch historisch, auch nicht politisch oder persönlich. Sie ist keine Maria-Theresia und keine Sissi, keine Queen und keine Diana, keine Adelige und keine Herrscherin, keine Frau, die Männer vom Thron stürzt, um selbst dort zu sitzen.  Es brauchte keine Umkehr von Herr-Knecht-Verhältnissen, in der die Knechte zu den Herren werden und die Mägde zu Königinnen. Wie sehr wünschte ich mir eine Gesellschaft und Beziehungen, in der Männer und Frauen auf Augenhöhe miteinander leben und einander lieben, in der Rivalitäten der Vergangenheit angehören und niemand mehr das Zepter in der Hand hält, um über andere zu bestimmen. Wir brauchen weder Könige noch Königinnen und keine Bilder, die solches verfestigen. Maria ist für mich Kumpanin, Companera, die für mich überall dort wieder lebendig wird, wo miteinander das Brot und das Leben geteilt wird. Marias rechte Hand ist befreit vom Zepter, um Tränen von den Wangen zu wischen und heilend zu berühren. Die Krone ist ihr beim wilden Tanzen vom Kopf gefallen. Sie sitzt auch nicht mehr auf einem Thron zwischen vier Marmorsäulen, sondern – wie es die Ursprungslegende erzählt – zwischen vier Bäumen und liegt wohl auf dem Gras und träumt von einer Welt, in der Menschen nicht mehr Kriege führen und gegeneinander rivalisieren, sondern sich in ihren unterschiedlichen Ausprägungen achten und schätzen.

Klaus Heidegger, am Festtag der „Krönung Marias“, 22. August 2022

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