Sonnenwartend und gottvoll

Noch im Dunkel der Herbstnacht. Ein bekanntes Diktum von Albert Camus passt zu meinem Seelenbefund: „Wir suchen in der Nacht mit Zittern – es ist der Glaube an das Leben, trotz allem …“ Die Lichter der Stadt funkeln bald tief unter mir; den Sternen bin ich scheinbar nun viel näher. Meine Gedanken bleiben heute bei Camus, während ich in der Stille der Nacht höher steige. Bin ich selbst wie Sisyphos, der sich den Bedingungen des Daseins trotzig stellt, aber nicht unterwirft? Weiß leuchten die schneebedeckten Gipfel im Schein des Mondes. Ein Schneehuhn flattert erschreckt davon. Ich entschuldige mich bei ihm. Oben auf dem Hochplateau mit dem kleinen See warte ich auf die Sonne. Sonnenwarten – wie eine Metapher für das Leben. Da gibt es etwas, das das Dunkle in Lichtvolles verwandelt – nicht besiegt. Da gibt es etwas, das die kalte Luft in Wärme verwandelt – nicht vertreibt. Licht braucht keine Gewalt für sein segensreiches Wirken. Manche erfahren solches Lichtvolle in einem Du – und manche nennen dieses Du Gott*. Absurdes wird aufgehoben – im Hegel’schen Verständnis, Leben macht Sinn in der Hinwendung zu anderen und in der Begegnung mit Menschen, würde ich Albert Camus antworten, säße er mit mir hier hoch über dem Inntal.

Salfeins wird der Aussichtspunkt genannt, auf dem ich nun philosophierend ganz am Anfang des neuen Tages sitze. Punktgenau auf 2000 Metern Höhe. Tief unter mir ist das Senderstal und die Salfeinsalm, wo mein Rad geparkt ist. Auf der anderen Seite ist das Fotschertal. Beeindruckend sind die imposanten Kalkkögel im Osten. Die Sonne braucht jetzt Mitte November lange, bis sie es kurz nach 8.00 Uhr über die Felszacken schafft und einen goldenen Strahl wie eine Brücke zu mir über den See baut. Kleine Eisbrocken liegen auf dem Eis, das das Farbenspiel des Himmels widerspiegelt. Das Warten auf den Sonnenaufgang schenkt mir Zeit für die Wandlungsphase von der Nacht zum Tag. Das Naturspektakel beginnt im Osten beim Gebirgsstock des Wilden Kaiser. Violett-rot-orange-gelb im dunkelblauen Himmel. Dann erstrahlen die höchsten Spitzen nach und nach, die schneebedeckte Zugspitze hinter dem Wetterstein und der Mieminger Kette, der Rosskogel und im Norden die langen Gebirgsketten des Karwendels. Sie alle werden zunächst noch in ein rötliches Morgenlicht getaucht, bevor sie das geschenkte helle Morgenlicht wiedergeben.

Erfüllt vom Lichtvollen schöpfe ich Kraft für den Tag und sause die Alm- und Forstwege hinunter, der rauschende Sendersbach an meiner Seite. Auf den letzten 5 Kilometern am Inn-Radweg entlang zurück in die Stadt holt mich die Dystopie wieder ein: Kolonnenverkehr auf der Inntalautobahn. Ich habe die orange Warnjacke an – zumindest für mich ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen der „Letzten Generation“, die heute wieder irgendwo eine Straße blockieren, weil die Kipppunkte der Erdzerstörung bald erreicht sind.

Klaus Heidegger, 15.11.2022

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