Margareta im Regen, König Stephan I. im Prunk: zwei konträr bleibende Erscheinungsweisen des Christentums

Sie steht allein auf einer Insel. Margareteninsel. Nach ihr ist der grüne Streifen zwischen Pest und Buda benannt. Heilige Margareta. Nicht die Gretl mit dem Wurm, die mir beim Namen Margareta sofort einfällt, nicht die Märtyrerin aus Antiochia, die den bedrohlichen Drachen zähmte, anstatt ihn wie der Hl. Georg – der mir hier in Budapest in Darstellungen auch so oft begegnet – zu töten, nicht sie wird in Buda und Pest und in Ungarn verehrt. Es ist die daheim kaum bekannte Hl. Margareta von Ungarn. Ihr prominenter Vater war König Bela IV. Um siegreich im Kampf gegen die Tartaren zu sein, hatte der König sie schon im Mutterleib dazu bestimmt, dass sie als Nonne und Jungfrau leben solle. Mit ihrer Historie sind wir im 13. Jahrhundert.

Sie steht 700 Jahre später allein im Regen. Unbeachtet von den Massen. Eine zarte bronzene Statue von ihr. Keine Kolossalstatue sowjetischer Machart. Jemand hat eine Rose in ihre Hände gelegt. Sie steht inmitten von Mauerresten, die einst ein Kloster bildeten. Dort hat sie gelebt. Dort hat sie sich um die Armen und Kranken gekümmert. In solcher Zuwendung konnten Wunder geschehen, konnten Menschen neue Hoffnung schöpfen. Vom Volk wurde Margareta deshalb als Heilige verehrt. Sie steht inmitten von einem Labyrinth. Ein nackter Fuß tritt achtsam hervor, so als begänne sie aus den Kreisen in den Regen zu tanzen und in den Mauerresten, die wie Linien in einem Labyrinth sind. „Tanze, Margareta, bringe mich auch zum Tanzen,“ so kann ich beten, gegen all die Verzweiflung angesichts einer Welt, die so sichtbar kaputt gemacht wird. Mit ihr scheint ein mächtiger Baum ihr gegenüber zu tanzen.

Im Zentrum von Pest wurde für ihn eine Kathedrale erbaut. Kein Gebäude ist prunktvoller. Mit hoher Kuppel. Kein Gebäude durfte höher sein, als ungarischer Nationalismus herrschte. Mächtige Mauern, mächtige Portale. Macht. Mit Gewalt und Macht hat er auch regiert und Kriege geführt. Stephan I. zur Jahrtausendwende. König war er und die Magyaren hat er zu einem Königreich gemacht. Ganz vorne steht er in seinem Prunkbau, weiß leuchtend mit Schwert und mit Krone, seine verweste Hand lagert in einem silbernen Reliquienschrein. Ein Ölgemälde zeigt ihn, wie er vor Maria kniet, Schwert und Krone neben sich liegend. Befiehlt ihm die Muttergottes: „Nimm das Schwert, um zu kämpfen und um zu töten!“, oder bittet sie ihn, „leg das Schwert beiseite!“?

Der mächtige König steht nicht im Regen wie Margareta, die mir zuvor auf einsamem Spaziergang begegnete. Tausende drängen sich in seiner Kathedrale und davor im weihnachtlichen Markt zwischen Würsten und Langos und Glitzerlämpchen und Weihnachtsdeko im Überfluss. Seine Krone ziert seit der Machtübernahme durch Fidesz das ungarische Staatswappen und befindet sich im Parlamentsgebäude. Keine andere Person wird im ungarischen Nationalismus mehr instrumentalisiert. König Stephan I., der Herrscher aus dem Jahr 1000, der Zwangstaufen verordnete, der mit Brutalität und Gewalt das erste ungarische Königreich schuf, der aus Machtinteresse nicht davor zurückschreckte, seinen Vetter blenden zu lassen und in dessen Ohren Blei gießen ließ. Ungeachtet dessen wurde der erste ungarische König vom Papst bald nach seinem Tod heiliggesprochen. Das ungarische Königshaus war nützlich für die Machtinteressen des Papstes. Heute ist er nützlich für das Narrativ eines christlichen Abendlandes und damit für eine Abwehr von all dem, was als „nicht-christlich“ definiert wird. Heiden, Juden oder Muslime. Ein Gemälde zeigt ihn, wie er mit Ritterrüstung im Kampfgetümmel Menschen aufspießt. König Stephan steht für die schlimmste unheilige Allianz: der Verbindung von Kreuz und Schwert. Mir graut, wenn ich seine rechte Hand als Reliquie in einem kostbaren Schrein in einer Seitenkapelle der Stephanskirche sehe. Stephans Hand, die gemordet hat und morden ließ, soll seit 1000 Jahren nicht verrottet sein. Wie wahr: Heute gibt es viele Hände, die wie Stephans Hand sind. Das gegenwärtige Kriegsgeschehen in der Ukraine ist so nahe. In der Kathedrale des Hl. Stephan kann ich nicht beten, wie ich es tat in den Ruinen des Klosters der Hl. Margareta.

Dankbar bin ich heute für heilende Hände, die das Werk von Margareta und nicht das Kriegshandwerk von König Stephan weiterführen: Die heilenden Kräfte, die sich um Flüchtlinge kümmern und sie nicht in brutalen Push-back-Aktionen in neue Verzweiflung stoßen; die Hunderttausenden Hände der Margareta heute: Eltern, die ihre Kinder begleiten; Kinder, die ihre altgewordenen Eltern unterstützen; einfach überall dort, wo eine Hand aufrichtet und tröstet. Die Hand der Heiligen Margareta braucht keinen Reliquienschrein und verwest nicht. Sie – und nicht König Stephan – soll die Zukunft des Christentums sein.

Klaus Heidegger, Margareteninsel-Budapest, Dezember 2022

Kommentare

  1. Heute lese ich diese Gedanken zu St.Margarete und König Stephan, gestern hab ich mir die Neujahrsansprache von Eugen Drewermann angeschaut – der gleiche Geist, die gleiche Sehnsucht nach wahrem Christentum, welches danach strebt wie Christus zu handeln und nicht, der Stärkere zu sein!
    Danke! Da geht mir das Herz auf!
    Wie machtvoll ( nicht weltlich gemeint!) wäre das Christentum, wenn es sich darauf besinnen würde….

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