In Budapest an jüdische Geschichte ge-denken

Die bronzenen Schuhe am Ufer der Donau. Sie erinnern an das Grauen der Shoah. Es ist ein einfaches, aber umso eindrücklicheres Mahnmal gegen den Holocaust zwischen zwei der großen Donaubrücken, auf der anderen Seite gegenüber die malerische Kulisse der Burganlagen von Buda mit der Matthiaskirche, auf der Seite des Mahnmals das imposante Parlament mit seiner ganz besonderen Fassade. An der Stelle der bronzenen Schuhe wurden Jüdinnen und Juden am Ende der Schreckensherrschaft 1944 von den Pfeilkreuzlern, den ungarischen Faschisten, wie Schlachtvieh erschossen und in die Donau geworfen. 300.000 Jüdinnen und Juden lebten einst in Budapest, Tausende von ihnen während der letzten Kriegsmonate eingesperrt im Getto. Viele verhungerten, erfroren, starben an Epidemien oder wurden zu Abertausenden in die Vernichtungslager gebracht, ungarische Faschisten gemeinsam im Teufelswerk mit nationalsozialistischen Verbrechern. Zweimal war ich diesmal wieder bei diesem Mahnmal, einmal abends im Regen, als die bronzenen Schuhe ganz schwach die Lichter der Stadt widerspiegelten, einmal morgens in der Kälte der Dezembersonne. Die Menschen, die zu diesem Mahnmal kommen, sind meist betroffen, ruhig, still.

Blickte Orban heute vom nahen Parlament zur Donau, so sähe er die bronzenen Schuhe und vielleicht könnten ihn die Schuhe daran erinnern: Nie wieder sollen Menschenrechte gebrochen werden. Sie gelten für alle:. Auch für jene, die – in Zusammenarbeit mit österreichischen Sicherheitskräften – als Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze kein Weiterkommen haben und in Elendslagern in Kälte ausharren.

Auf den Stufen hinauf zum Parlament, von den bronzenen Schuhen in Richtung Parlament mit Kuppeln und Abertausenden Säulen und Statuen, dort sitzt die bronzene Statue des ungarischen Lyrikers Attila Jozsef. Er blickt tieftraurig in die Donau und es ist, als würde er dem Parlament den Rücken zudrehen, gerade so, als wäre er nicht einverstanden mit der Politik, die dort beschlossen wird. Orban und seine Fidesz wollten schon die Statue entfernen lassen – internationaler Protest hatte es verhindert. Ich werde wohl bald einmal in die Universitätsbibliothek gehen, um einige seiner Gedichte zu lesen. Aus dem Internet suche ich mir spontan jenes aus, das er mit 16 schrieb, als er ein Waisenkind war und als Tagelöhner arbeitete:
„Ein wilder Apfelbaum will ich werden! /
Ein weitverzweigter Apfelbaum; /
Alle Hungernden äßen von meinem /
Riesigen Leib, alle Kinder /
Säßen unter meinen Zweigen.“

Von jüdischer Geschichte erzählten mir gestern vor allem die Synagoge und das, was rundherum sich an Gebäuden und Denkmälern befindet. Es war in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die große jüdische Gemeinde sich nicht mehr verstecken wollte, sondern Freiheit spürte: Die wohlhabenden Mitglieder der Gemeinde wollten eine Synagoge, die größer sein sollte als jene in Wien. Fünf Jahre haben sie daran gebaut, mit Kuppel und einer Architektur, die mehr an eine Kirche erinnert als an eine Synagoge. Die reichen Ornamente an den Wänden, der Decke und der Kuppel wiederum erinnern an eine Moschee. Die drittgrößte Synagoge der Welt ist es geworden. Die Synagoge wurde in den Kriegsjahren nicht zerstört, weil sich Militärs darin versteckt hielten, doch konnte sie die Hunderttausenden Jüdinnen und Juden nicht vor der Shoah retten. Vor der Synagoge wurde am Ende des Krieges Tausende Gräber ausgehoben. Gegenüber der Synagoge lebte einst Theodor Herzl und hier wurde die zionistische Idee geboren, die seit Jahrzehnten in ihrer extremen Form das Existenzrecht des palästinensischen Volkes in Frage stellt. Im jüdischen Viertel rund um die Synagoge erinnert heute nur mehr wenig an das jüdische Leben von damals. Ein, zwei koshere Restaurants vielleicht. Der Großteil der stattlichen Häuser ist verbraucht – so wie sehr viele in der Innenstadt von Pest.

Klaus Heidegger, 12.12.2022, Budapest

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