Von Türhirten und Türhirtinnen

Warum nannte die Gemeinde des Johannes im 10. Kapitel ihres Evangeliums Jesus den Guten Hirten und zugleich die Tür? (Joh 10,1-10) Beides hat wohl miteinander zu tun. Welche Erfahrungen stecken hinter diesen beiden Bildern, die zu einem Bild werden? Eine einfache Deutung geht so: In der bäuerlichen Nomadenkultur des Vorderen Orients spielte sich das Leben der Hirten und ihrer Schafe wie folgt ab. Große Unterstände für die Schafherden gab es nur in der Nähe größerer Siedlungen. Im Land draußen, wo die Hirten mit ihren Schafen unterwegs waren, gab es allerdings mit Steinmauern abgegrenzte kleine Unterstände. Die Schafe wurden durch einen engen „Tür“-Eingang am Beginn einer Nacht in diese „Stallungen“ getrieben. Dort waren sie sicher vor Wölfen. Der Hirte setzte oder legte sich vor den Eingang – er war also wie eine Tür, der mit seinem eigenen Körper dafür sorgte, dass kein Schaf mehr nach außen kam und kein Raubtier nach innen dringen konnte. In mir wird eine Erinnerung wach: Als ich mit meinem damals kleinen Sohn mit Zelt unterwegs war, war es selbstverständlich, dass ich am Zelteingang schlafen musste. Das gab ihm Sicherheit für die Nacht und meine Rolle als väterlicher Hirte nahm ich gerne an. Und heute? Ich sehe diese Türfunktion in Gruppen wie Extinction Rebellion oder der Letzten Generation, die symbolhaft verhindern, dass die Kipppunkte, von denen der Weltklimarat spricht, nicht in unsere Welt eindringen werden. Ich sehe die behütende Tür in Menschen, die Verzweiflung angesichts erlebter Ungerechtigkeit und verletzender Erfahrungen nicht hereinlassen. Die Diebe heute sind jene, die mutwillig mit ihrem umweltzerstörerischen Verhalten das Überleben von Menschen gefährden und mit einem egozentristischen Lebensstil die Lebensqualität anderer Menschen mindern. Ich blicke in die Welt und sehe Diebe und bin unendlich dankbar für Hirtinnen und Hirten, in denen Jesus als der Gute Hirte auferweckt wird.

Klaus Heidegger, zum Gute-Hirte-Sonntag 2023

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