Vom ganz normalen Autowahn: ein Beitrag zur Europäischen Mobilitätswoche

Aus den Fugen

„Die Welt ist aus den Fugen.“ Dieses bekannte Diktum aus Shakespeares Hamlet benützte der UN-Generalsekretär bei der Generalversammlung. Die Klimakrise ist dabei der größte Faktor für eine Welt in Turbulenzen. Der individuelle Massenverkehr wiederum trägt in vielen Ländern am meisten zu den Treibhausgasemissionen bei. Anschauungsunterricht gibt es zuhauf vor der eigenen Haustür. Die Europäische Mobilitätswoche und die vorgeschlagenen Autofreien Tage in der dritten Septemberwoche legen den Fokus darauf, dass Autofahrten minimiert werden und eine klimafreundliche Mobilität praktiziert wird.

Normalitäten

Einen Diskurs über Normalität brach zu Sommerbeginn eine österreichische Landeshauptfrau von niederösterreichischen Zäunen. Normalität, das muss vorangestellt sein, ist ein politischer Kampfbegriff aus rechtsradikalem Eck. Mit dem blau-schwarzen Zaunpfahl fordert sie zumindest intellektuell auf, über Normalität zu sinnieren. Nicht will ich, wie es die Ex-Innenministerin tat, Menschen in den Kategorien von normal und abnormal schubladisieren. Zurecht hatte der grüne Vizekanzler solche begrifflichen Klassifizierungen als faschistoid bezeichnet. Die Bad Boys aus Niederösterreich, mit denen sich Mikl-Leitner liiert hat, betreiben mit ihrem Landbauer an der Spitze mit rechtslastigen Normalitätsdefinitionen jedenfalls eine postfaschistoide Politik. Was sie als „woke“ diffamieren – nämlich Menschen der LGTBQ*-Gemeinschaften, eine gendergerechte Sprache, eine menschenrechtskonforme Aufnahme von Flüchtlingen oder gar die Letzte Generation – gilt ihnen als abnormal. Was aber ist normal? Was ist die Norm? Wer sind die Normaldenkenden von Mikl-Leitner, Landbauer & Co? In der Frage der Automobilität lässt sich dies leicht ausmachen.

Ich erfahre und ertrage täglich und immer wieder eine bestimmte Normalität. Normal ist es, wenn eine Stadt im automobilen Verkehrsgeschehen erstickt. Stinkende und lärmende Blechwürmer wälzen sich morgens von den Speckgürteln rund um Innsbruck in das Stadtgebiet und abends wieder zurück. Meist sitzt nur ein Mensch in dem tonnenschweren High-Tech-Gefährt. Egal ob die Stadt in heißen Sommertagen sich anfühlt wie ein Backofen – und eine verkehrsbedingte hohe Ozonkonzentration vor allem die Schwachen gefährdet, egal ob im Winter noch mehr Abgase freigesetzt werden, um die Motoren in Gang zu bringen und das Innere der Autos zu heizen, Normaldenkende denken nicht daran, ihr Auto vielleicht nicht benützen zu müssen. Normaldenkende regen sich fürchterlich auf, wenn in den letzten Monaten ganz gezielt und nur an ganz wenigen Tagen und nur in ganz kurzer Zeit ein Stau durch eine Letzte Generation-Aktion erzeugt wurde, wenn aber täglich neu irgendwo ein Stau in der Stadt durch den Massenverkehr entsteht, dann zählt dies zur Normalität. Normal ist, dass nicht nur an den Wochenenden sich die Blechwürmer durch die Täler und über die Pässe wälzen, durch Städte und Dörfer, damit Normaldenkende an fremden Orten jene Erholung suchen, die sie mit ihrem massenhaften Verhalten den Menschen entlang der Autotrassen zerstören. Normaldenkende denken wohl nicht an die Emissionen, mit denen der Massenverkehr die Klimakrise befeuert, denken nicht daran, dass die fossilen Treibstoffe irgendwo aus meerverseuchenden Off-Shore-Bohrungen kommen und aus Gegenden, die durch die Erdölgewinnung zerstört werden. Zu viele der Autos sind viel zu groß und zu PS-stark dimensioniert, was einen achtsamen Umgang mit dem Gaspedal naturgemäß erschwert, weil in der Großhirnrinde evolutionär das Signal ankommt, der Mensch kann sich mit weniger Energieaufwand fortbewegen als ein Steinzeitmensch auf der Jagd nach Wild oder der Suche nach Schwammerln. Normaldenkende verknüpfen nicht den Preis an der Zapfsäule mit dem Geld, das dann für Waffenkäufe und kriegerische Unternehmungen verwendet wird. Vielfältig sind die Verkoppelungen von neuen Kriegen und Kriegsvorbereitungen auf der einen Seite und den Geschäften mit den Mineralölkonzernen auf der anderen Seite. Die KI, die eine Fülle an Daten auf den hochmodernen Cockpits anzeigt, ist jedoch nicht für solche Zusammenhänge programmiert. Emotionale und vorausschauende Intelligenz fehlt darin. Es fehlt wohl auch: Empathie für die vielen Menschen, die heute schon von den Folgen der Erderhitzung betroffen sind, für die von Unwetterkatastrophen Geschädigten, für Umweltflüchtlinge oder Hitzeopfer. Zur Normalität zählt auch, dass sich Motorradfahrende an Wochenenden über die Passstraßen Nord- und Südtirols Rennen liefern und die AnrainerInnen entlang der Strecken lieber in die Häuser mit geschlossenen Fenstern verziehen. Normal ist, wenn zu Beginn eines Schuljahres bei einer Anfangskonferenz auf Calium-Jodid-Tabletten im Sekretariat oder auf ein Schreiben zum Verhalten bei einem Black-Out hingewiesen wird, und vor der Schule der Parkplatz gefüllt ist, weil die stattfindende Katastrophen hingenommen werden. Die in den Umfragen stärkste Partei Österreichs will sich jedenfalls der Anliegen der Normaldenkenden annehmen und hetzt wider alle Vernunft gegen schärfere Temporegulierungen wie 30/80/100.

„Stop fossil fuels“

Das Hauptforderung am weltweiten Klimastreiktag 2023 lautete: Raus aus den fossilen Kraftstoffen. Derzeit hat der Verkehrssektor den größten Anteil an Treibhausgasemissionen. Der massenhafte Individualverkehr ist so etwas wie der Geisterfahrer bei Klimaschutzmaßnahmen. Das heißt zugleich: Im Verkehrssektor ließen sich ohne viel Aufwand sehr leicht Klimaschutzmaßnahmen setzen.  Daher auch die so einfache Forderung der Letzten Generation nach Tempo 100 auf Autobahnen als ein wesentlicher Schritt. Angesichts der katastrophalen Folgen der Erderhitzung, der apokalyptischen Szenarien, wenn die Kipppunkte des Abschmelzens der großen Gletschermassen erreicht sind, wenn die 1,5- oder 2 Grad-Ziele der Klimaabkommen nicht erreicht werden, angesichts dessen schenken Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation oder von Extinction Rebellion Hoffnung und ermutigen, doch nicht zu resignieren. Eine andere Mobilität ist möglich!

Dafür braucht es zwei miteinander in Interaktion und Interdependenz verbundene Strategien: Zum einen das individuelle Verhalten und zum anderen das politische Gestalten und Steuern. Im politischen Bereich gäbe es viele Ansatzpunkte.

Noch immer fehlt ein Klimaschutzgesetz, das dringend notwendige öko-soziale Maßnahmen bündeln könnte. Die CO-2-Steuer auf fossile Brennstoffe ist angesichts der Schäden weiterhin viel zu niedrig. Entgegen aller Ankündigungen wurde das so genannte Dieselprivileg immer noch nicht abgeschafft. Der Klimabonus sollte nicht gießkannenmäßig ausbezahlt werden, sondern öko-sozial lenkend. Was bringt es nämlich, wenn eine Klimabonus-Zahlung benützt wird, um damit ein paar Mal einen SUV mit Diesel vollzutanken? Eine Studie des WWF hat gezeigt, dass Österreich jährlich 4,5 bis 5,7 Milliarden Euro für „klimakontraproduktive Subventionen“ ausgibt. Und nicht überraschend: Der größte Anteil betrifft mit 61% Fördermaßnahmen für den Verkehr.

In meinem Sabbatical-Jahr habe ich immer wieder mit spürbarer Verzweiflung wahrgenommen, was in diesem Europa tagtäglich geschieht: In den Großstädten, die von einem Ring aus Autobahnen umgeben sind, die mir wie würgende Krakenarme vorkamen, in dem Inneren der Städte, wo Nicht-Motorisierten nur die Ränder der Straßen bleiben oder auf den Passstraßen der Alpen, wo ich von Motorrädern oder Sportwägen nicht nur einmal fast über den Straßenrand hinausgedrängt worden bin.

Klaus Heidegger, 19.9.2023

Kommentare

  1. Lieber Klaus, großen Respekt vor deinem Schreiben, vielleicht magst du dieses Schreiben auch an die letzte Generation als Ermutigung direkt weiterleiten. Sigrid und ich sind dabei uns der letzten Generation anzuschließen. Ich habe mich diesen Sommer mit ihren Anliegen und Inhalten beschäftigt. Ich war in München bei einer gemeinsamen Protestaktion der letzten Generation mit den scientists for future dabei. Herzlichen Danke für dein wichtiges Schreben. Liebe Grüße Thomas

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