Emotionales Hochschaukeln zwischen Eutopie und Dystopie

Nicht ohne die in mir brodelnde täglich neue Wut über die mit Abgasen der Verbrennungsmotoren vergiftete Luft in der Stadt und den Lärm der Straße beginne ich den Tag. In ein Morgenrot getunkt ist der Schnee auf den Bergen und ruft mich hinauf. Freundschaftsverbunden steige ich selbst frühmorgens in das Auto meines Freundes und nehme die mir vertraute Autoscham als Kompromiss in Kauf, um zu einer Skitour und für ein wertvolles gemeinsames Unterwegssein aufzubrechen. „Es ist nicht weit …“, rechtfertige ich mein etwas herausgefordertes ökologisches Gewissen, das immer hellwach mitfährt. Ich bin froh, dass nächste Woche wieder ein Slowmarch der Letzten Generation in Innsbruck die Straßen beruhigen wird. Die Nachrichten in den Zeitungen und im Rundfunk sind voll von kaum erträglichem Ballast, der meinen Weltschmerz nährt. Der Generalmajor des Bundesheeres will Österreich „kriegsfähig machen“, so die Nachrichten morgens. Stets neu zauberhaft formschön ragt die Serles mit ihren beiden Nebengipfeln als stolze Dreiheit vor dem Getöse im Wipptal auf. Von der Stadt aus sah ich gestern abends noch um 17.00 die Abendsonne auf dem höchsten Gipfel. Der ladinische Name „Sonnenstein“, von dem sich Serles ableitet, passt zu ihr – mehr noch die bleibend gültige Sage, die mit ihr verbunden ist und mahnt, dass menschliche Gier ins Verderben führt. Die Verteidigungsministerin assistierte voll Freude dem Generalmajor und stellt die milliardenschweren Aufrüstungspläne des heimischen Heeres vor. Es gehe um die neuen Kernaufgaben des Bundessheeres, die es gälte zurückzugewinnen. Man müsse sich in den Verteidigungsanstrengungen europäisch vernetzen und die EU-weite Luftabwehr „Sky Shield“ wird gelobt. Der Himmel ist heute tiefblau und wolkenlos. Im Himmel über der Ukraine fliegen die Drohnen und in den Himmel geschossen werden Bomben und Granaten aus europäischen Fabriken finanziert mit europäischen Geldern. Im „Österreich-Plan“ des Bundeskanzlers finden sich Dutzende Annäherungen an die menschenfeindlichen Anliegen der Freiheitlichen. Effizienter Klimaschutz ist jedoch kein Thema. Unter dem Slogan „Klimschutz mit Hausverstand“ – ganz in der Linie der Kickl-Parole „Naturschutz mit Hausverstand“ – wird eine Politik der Naturzerstörung prolongiert, Straßen werden mit Milliardenbeträgen weiter ausgebaut werden. Auf der Brennerautobahn zwischen Innsbruck und Matrei herrscht wie gewohnt der Massenverkehr. Die Serles lockt verlockend mit ihrem majestätischen Gipfel. Die tonnenschweren Lkws stehen Stoßstange an Stoßstange. Von einem „highway to hell“ sprach António Guterrez. Der Morgenhimmel ist tiefblau – bis auf die weißen Kondensstreifen, die vom himmlischen Highway to hell erzählen.

Unsere Tour startet etwas außerhalb von Navis beim Parkplatz Schatzberg, wo die Rodelbahn und der Weg zur Naviser Hütte beginnen. Mein Körper fühlt sich beim Steigen leicht an, die Gedanken an den Zustand der Welt wiegen schwer. Auf der gegenüberliegenden Seite, an den Abhängen der Sonnenspitze, sind frische Schneebretter und Schneerutschungen zu sehen. Dagegen ist unser Aufstieg zur Naviser Hütte sehr sicher. Sanft geht es durch den Wald zur Hütte, die geschlossen hat, und dann über vielfach kupiertes Gelände und schließlich über einen Grat zum Gipfel. Ich soll einen Artikel fertigstellen über die Möglichkeiten, aus den kriegerischen Dynamiken in der Ukraine oder im Nahen Osten auszusteigen. Meine Gedanken kreisen. Es ist Ende Jänner und es ist warm wie im Frühling. Wir sind allein am Gipfel. Ein Rundumpanorama der Extraklasse. Rund zehn Kilometer Abfahrt liegen vor uns. Nur Naturschnee, der von keinen tonnenschweren Pistengeräten malträtiert worden ist, Hänge, die nicht in Pisten verwandelt wurden, wie in den Skigebieten hierzulande, wo sich Tausende auf eisigen Kunstschneepisten drängeln. Ein paar Wedelspuren führen entlang der Abhänge vom Reckner und der Wattener Sonnenspitze über steilere Hänge mit Pulverschnee und dann wieder über sanfte Hügel und Kuppen hinunter zum Naviser Bach und schließlich auf der rechten Talseite über Almwege zur Peeralm. Von dort im Firn zurück zum Ausgang. Es war eine wunderbare Tour in eutopischer Wirklichkeit. Gipfelwind und Abfahrtswind lassen mich dankbare Tränen spüren. Wie viele Menschen sind heute im Gazastreifen gestorben – durch Bomben oder an Hunger oder wegen fehlender medizinischer Versorgung? Da sind auch die anderen Tränen in mir, die schwer auf der Seele liegen. Unvermittelt stehen sich dystopische und eutopische Wirklichkeiten gegenüber – und die Utopie bleibt ungelebt im Großen, wird jedoch erfahrbar im konkret Kleinen, das in kostbaren Momenten die ganze Welt bedeutet.

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