Nachhaltig radeln über Alpenpässe und um Seen in Zeiten der Klimakrise und der Kriege

Tag 1: Samstag, 14. Juni 2025: Von Innsbruck über Kühtai, Ötz, Sautens, Imst, Pillersattel nach Prutz

Die gestrige Fahrraddemonstration durch die Straßen von Innsbruck und dann ein Stück der Autobahn entlang ist mir noch bekräftigend im Herzen. Ich bin nicht allein im Widerspruch gegen eine Mobilitätspolitik und massenhaftes ökologisches Fehlverhalten, das die Lebensqualität von Tausenden zerstört und die Klimakrise anheizt. Ich könnte mein Tun auch im Sinne des jüngsten vatikanischen Dokuments verstehen, das mit Bezug auf das „Heilige Jahr“ von der Notwendigkeit einer „ökologischen Bekehrung“ spricht.

Von der eigenen Haustüre an mit Rädern unterwegs zu sein, um die Schönheit der Natur und der Kultur zu entdecken, um sich zu öffnen für neue Begegnungen und Erfahrungen ist mir ein besonderes Privileg. Radfahren ist mir mehr als Sport – es ist auch ein politisches Statement für eine andere Welt jenseits des fossilen Wahnsinns. Eigentlich gibt es diesmal gar kein bestimmtes Ziel, weil der Weg schon das Ziel ist und sich so dieses Ziel stets neu an den Weg anpassen wird.

Die frühen Morgenstunden sind die besten, um mit dem Rad loszufahren. Die Luft ist noch frisch, der Himmel klar, die Farben sind intensiv und die Freude, einen ganzen Tag ohne Eile vor sich zu haben: all dies spricht für einen frühen Aufbruch. Vor allem aber ist auf den Straßen noch wenig los. Unsere Reise wird viel entlang von Flüssen und Bächen gehen, die die Täler geformt haben und den Ortschaften dann Räume gaben.

Die heutige Strecke ist mir vertraut. Heimatstrecke. Der Inn wird uns bei der geplanten Runde immer wieder begleiten. Bei Kematen beginnen dann die Steigungen hinein ins Sellraintal. Die Mellach rauscht. Achtsame Menschen haben an einer Stelle Froschzäune hin zur Straße gemacht. Die Luft duftet nach Bergwiesen und Kuhfladen, die sich in regelmäßigen Abständen auf der Straße befinden. Knackig ist ein Anstieg hinter St. Sigmund mit bis zu 18 Prozent. Die Galerien hinaufzufahren ist leicht beklemmend, obwohl um diese Tageszeit noch wenig Verkehr ist. Am heutigen „Top-of-the-tour“ sind wir auf 2020 Metern. Die Liftanlagen und Hotels am Sattel wirken in den Sommermonaten geisterhaft. Ich denke an den letzten Winter und meine Schneeerfahrungen. Auf der anderen Seite der Passhöhe, bei der 3-Seen-Bahn, veranstaltet die TIWAG einen „Tag der offenen Baustelle“. Seit etlichen Jahren baut die TIWAG mit enormem Aufwand ein neues Pumpspeicherkraftwerk und einen neuen Speichersee, der auch mit Zuflüssen aus dem Stubaital und dem mittleren Ötztal gefüllt werden wird. Sensible Bergnatur wird mit Megaprojekten umgebaut, um den unersättlichen Energiehunger der Menschen zu stillen. Etliche Rennradfahrende kommen aus dem Westen die Serpentinen von Ötz und Ochsengarten hinauf. Wir sausen hinunter. Der Nederbach linksseitig der Kühtaistraße und die Wälder sind angenehm kühlend an diesem heißen Tag.

Im Ötztal unten angekommen plumpsen wir in eine andere Wirklichkeit: Eine Auto- und Motorradschlange wälzt sich durch die Dörfer. Wir sind froh, bald in die kleine Ortschaft Sautens abzubiegen, und ich entdecke dabei eine schöne neue Strecke durch das Forchet, ein kleines Naturschutzgebiet. Ein schmaler asphaltierter Weg führt durch den Föhrenwald hinunter zur Bundesstraße. Auf dem Inntalradweg geht es durch die Imster Schlucht; von Imst hinein nach Wenns, wo die Pillerstraße beginnt. Der Weiher bei der Ortschaft Piller mit dem kühlenden Wasser ist an diesem heißen Tag besonders wertvoll. Ich schwimme in dem trüb-braunen Moorwasser zwischen den anmutigen Karpfen. Sie scheinen es gut zu akzeptieren. Bei der Pillerhöhe auf 1559 m beginnen dann die Tiefblicke hinunter ins Inntal und später ins Kaunertal, nach Prutz und zu meinen familiären Bindungen. Wir beeilen uns, weil sich im Norden bereits Gewitterwolken bemerkbar machen. Am Ende der Fahrt zeigt die Sportuhr nicht ganz 100 Kilometer und 2600 Höhenmeter.

Tag 2: Sonntag, 15. Juni 2025: Dem Inn entlang ins Engadin zum Malojapass und hinunter ins Bergell

Auch die Strecke des zweiten Radtages ist mir vertraut. Der südwestlichste Teil Tirols ist meine Alt-Heimat, wo das Inntal eng zwischen den Bergen des Kaunergrats und des Glockturmkamms im Süden und der Samnauner Gruppe im Norden ist, wo die alten Dörfer klein geblieben sind und im Kern noch bestimmt sind von alten steinernen Häusern. Unser Weg geht über die alte Straße – Ried-Tösens-Pfunds. Bei der Grenze in die Schweiz, wo das Unterengadin beginnt, wird es dann eng. Der Inn fließt durch eine Schlucht. Martina ist der Grenzort. Es beginnt die lange flache Steigung hinauf nach St. Moritz und den Malojapass. Noch hat der sommerliche Hauptreiseverkehr nicht eingesetzt. Wir bleiben auf der Straße. Im teils starken Gegenwind wechseln wir uns mit Windschatten ab. Der Radweg im Engadin ist für Rennräder nicht geeignet. Es ist Sonntag – so fahren auch keine Lastkraftwagen. Die kleinen Dörfer sind verschlafen. In einem davon, in Lavin kurz nach Scuol, machen wir am Dorfplatz bei einem der wenigen Gasthäuser Halt. Es ist nach dem Piz Linard benannt, dem bekanntesten der Gipfel im Norden. Seit Scuol fährt nun auf vielen Viadukten die Rhätische Bahn zu unserer Rechten. Manchmal ist starker Gegenwind. Ich kenne dieses Tal schon, das sich trotz seiner Schönheit sehr lange anfühlt. Wann kommt endlich St. Moritz? Die mondäne Ortschaft lassen wir aber zu unserer Rechten, bevor es zu den Hochseen am Maloja hinaufgeht, wo sich Kite-Surfer austoben können. Die Unterkunft haben wir in Casacia, der ersten Ortschaft unterhalb der Kehren zum Maloja-Pass, gebucht. Es ist ein vierhundert Jahre altes Hotel, das inzwischen zu einem einfachen „Basecamp“ – so die Selbstbezeichnung – umfunktioniert worden ist. Wir können dort mit Nudeln und Pesto und einem frischen Salat unsere Kalorienspeicher füllen. Das kleine Bergeller Bergdorf ist von einer einzigartigen Schönheit. Im Süden und Osten sind die steilen Granitflanken. Fast bedrohlich liegt der Albigna Stausee hoch über dem Tal. Ich denke zurück zu dem Bergsturz, der in dieser Gegend vor einigen Jahren schon eine Ortschaft weiter unterhalb verschüttet hat. Ich denke an den Klimawandel und das Auftauen des Permafrostes, was erst jüngst wieder zu einer Katastrophe in einem anderen Gebiet der Schweiz führte. Tourdaten: 134 Kilometer und 1549 Höhenmeter im Anstieg.

Tag 3: Montag, 16. Juni, Durch das Bergell zum Comer See

Wir nehmen uns Zeit, um in die alten Bergdörfer hineinzufahren, alte Kirchen zu besichtigen, die auf uralten Kultstädten errichtet wurden – und dann in Chiavenna, der großen malerischen Stadt am Ausgang des Bergells zu verweilen. Wir lassen uns Zeit im Bergell, so als wollten wir diese einzigartige Natur- und Kulturlandschaft nicht zu schnell zu verlassen. Die Dächer der alten Steinhäuser sind mit Granitplatten belegt. Die Straßen zwischen den Steinhäusern sind mit kleinen runden Steinen gepflastert.

Wir fahren über eine Steinbrücke über den Fluss Maira von der Hauptstraße weg. In einem der Bergdörfer steht der Palazzo Castelmur, wo der Künstler Alberto Giacometti sein Zuhause hatte. Auf einer Hügelkuppe bei La Mota steht die reformierte Kirche San Pietro mit einem Gemälde von Giacometti. Es zeigt ganz zart die Auferstehung. Giacomotto soll hier oft gemalt haben und nannte diesen Flecken Erde wohl zurecht „das Paradies“. Weiter flussabwärts bei einem Engpass in Castegna verlockt ein weiteres Kirchlein, das Rad auf eine felsige Anhöhe zu schieben. Ein sakrales christliches Heiligtum steht dort seit dem frühen Mittelalter. Daneben ist noch ein alter Turm des ehmaligen Kastells erhalten.

Ab Chiavenna beginnt dann ein anderes Leben und die Fahrt entlang der Seen. Meist passt es gut mit den Straßen, zum Teil gibt es auch Radwege. Ein kleines Stück vor Lecco geht es durch einen Tunnel, der in eine vierspurige Straße übergeht, was dann aber doch stressig wird, und wir atmen durch, als wir Lecco – das dritte Etappenziel am Comer See – vor uns sehen. Innerhalb eines Radtages sind wir von einem einsamen Bergdorf unterhalb des Malojapasses zu einem touristischen Bade- und Industrieort am Comer See gekommen, von einem einfachen selbstfabrizierten Abendessen zu einem Restaurant-Besuch auf einem der Plätze von Lecco. Tourdaten äußerlich: Rund 100 Kilometer und rund 500 Höhenmeter im Anstieg. Noch etwas weiter südlich, genau dort wo zwei Flüsse zusammenfließen, ist die Kirche San Martino mit resken aus dem 12. Jahrhundert.

Tag 4: Dienstag, 17. Juni, rund um den Comer See

An der Hauptpromenade von Lecco, wo ich gestern abends im See badete, steht ein monströses, hässliches Kriegerdenkmal. Würden doch die Krieger heute zum Denken beginnen, gäbe es keine der furchtbaren Kriege mehr! Würden sie nicht den narzisstischen Autokraten Gehorsam leisten, die Welt wäre im Frieden!

Wir entschieden uns, den direkten Weg nach Como zu nehmen, also nicht die ganzen Y-förmigen Arme des Comer Sees auszufahren. Como überrascht mit seiner Renaissance-Architektur und vor allem dem imposanten Dom. Die Straßen der Stadt sind voll von touristischen Menschen, die sich entlang der noblen Geschäfte schieben.

Uns locken die kleinen malerischen Dörfer entlang der Westküste des Comer Sees. Ein Traumblick auf den dunkelgrünen See und die Dörfer und illustre Paläste und Villen folgt dem nächsten. Verständlich, dass weltbekannte Celebrities wie George Clooney, Madonna oder Versace hier ihre Prunkhäuser besitzen. Meist gibt es kaum befahrene Nebenstraßen. Rast machen wir bei einer kleinen mittelalterlichen Jakobs-Kirche. Am Nordufer wird es dann wieder industrieller. Ein Bier und eine Pizza in einem der Cafés an der Strandpromenade von Domaso füllt die Kräfte auf, bevor es in das Valtellina-Tal hineingeht. Ein imposantes altes mehrstöckiges Steinhaus steht als B&B hoch über dem Adda-Tal – gerade so, als würde es auf uns warten. Rund 100 Kilometer und 1000 Höhenmeter.

Tag 5: Mittwoch, 18. Juni: Durch das Veltlin und über gebirgige Nebenstraßen auf den Alpaca-Pass

Der Tag ist wieder gefüllt mit Sonne. Die Kraft für neue Radkilometer und Radhöhenmeter ist längst zurück. Die Pizzen von gestern warten darauf, in Vorwärtsenergie umgebaut zu werden. Anfangs fließt die Adda durch das noch flache Valtellina-Tal. Da gibt es auch Radwege jenseits der Nationalstraße. Nicht immer aber lässt sich diese vermeiden. Um die bedrohlichen Schwerlaster vorbeizulassen, gilt es die Technik anzuwenden, die eigene Geschwindigkeit zu drosseln. Nach ca 30 Kilometern kommen wir in die größere Stadt Sondrio. Hier ist städtisches Leben und Kultur. Paläste, Kirchen, Märkte. Typisch für diese Gegend sind verschiedene Käsesorten. Komoot hat uns eine Strecke vorgegeben, die nach dem Stadterleben auf einsamen Straßen weit in die Bergdörfer hinaufführt, bevor es dann zum Aprica-Pass geht. Dieser Ort ist an diesem Tag gleichzeitig der Etappenort der TRANS Alp 2025 und entsprechend geprägt von Rennradfahrenden und den entsprechenden Begleiterscheinungen von einem der spektakulärsten Rennradevents in den Alpen. Lieber sind wir zu zweit ohne Stress und ohne dem doch relativ unökologischen Drumherum eines solchen Events unterwegs. Vom Aprica-Pass ist es bis zum 5. Etappenort, Vezza d’Oglio, nicht mehr weit. Dennoch: Wieder 100 Kilometer und 1800 Höhenmeter machen sich angenehm bemerkbar. Vor allem aber ist die Seele gefüllt mit einer Fülle an neuen Eindrücken, von einsamen Bergsträßchen durch kühlende Wälder, von lebendigen Städten und leider auch von unangenehmen Straßenabschnitten mit donnerndem Verkehr. Letzteres aber war wieder die Ausnahme. In einem der wenigen Gasthäuser in Vezza gibt es traditionelle Küche. Im Süden sind die hohen Gipfel des Adamello-Presanella-Gebirges sichtbar. Im Hotel sind wir mit einer Ausnahme die einzigen Gäste.

Tag 6: Donnerstag, 19. Juni: Tonale-Pass, Val di Sol und Nonstal

Gut ausgeruht geht es dann zu einem klassischen und legendären Giro d’Italia-Pass hinauf: Der Tofana-Pass. Wären da nicht im Süden die Gletscher der Adamello-Presanella-Gruppe, so gäbe es hier allerdings nur wenig Gebirgsfeeling. Auf der Passhöhe stehen schon die Motorräder, von denen sich gelenksstarr Zweifüßige hinunter quälen, so als müssten sie sich direkt von ihren eisernen und dröhnenden Monstermaschinen lösen. Gruselig ist das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Über einer Kapelle schlägt ein Engel eine Trommel. Darunter ist die Kapelle mit einem Altar, unter dem wiederum zwei große Granaten platziert sind. Wird hier das Töten von Menschen verherrlicht? Ich denke an die Granaten, die in diesen Tagen wieder in ukrainische Städte und auf russische Stellungen, in iranische und israelische Städte abgefeuert werden und mit denen seit Monaten die Bevölkerung von Gaza leben muss. Unterhalb der Passhöhe verfällt eine kleine mittelalterliche Kirche. Als ich ein wenig die angelehnte Tür des Bartholomäuskirchleins aufmache, schrecken die Vögel auf, die darin hausen. Vor dem Eingang liegt Müll. Etwas entfernt davon sind drei überdimensionale Holtelburgen.

Die lange Abfahrt ins Val di Sole beginnt. Tatsächlich ist dieser Tag und dieses Tal wieder gefüllt mit sehr viel Sonne. Unterhalb der Passstraße ist ein schöner Radweg meist entlang vom Fluss Noce. Ich lasse mich mit Komoot navigieren. Der Tag ist heiß. Ein anderer Rennfahrer kühlt sich auf eine besondere Weise. An einem Brunnen steigt er mit seinen Radschuhen in das kalte Wasser und kühlt sich ab. Bei Pellizano lockt eine spätmittelalterliche Kirche ins Innere. Die Steigungen folgen dann hinauf nach Fondo. Davor aber machen wir nochmals Pause mit einem Panoramablick auf den Lago di Santa Giustina. Die Landschaft unterhalb der Wälder ist geprägt von Apfelplantagen soweit das Auge reicht. Sankt Felix im Nonstal heißt der 6. Etappenort nach knapp 1800 Höhenmetern und 90 Kilometern.

Tag 7: Freitag, 20. Juni, St. Maria im Walde, Gampenpass, St. Hippolyt und am Etschradweg von Lana bis Mals

Der Etappenort St. Felix lag bereits auf über 1000 Meter Seehöhe. Verwöhnt von einem ausreichenden Frühstück genießen wir erholt die neuen Höhenmeter. Die Ortschaft „Unsere Liebe Frau im Walde“ zieht mich an. Tatsächlich ist es ein besonderer Ort. Die Wallfahrtskirche mit ihrem romanischen Turm und dem Kirchenschiff im gotischen Stil aus dem 15. Jahrhundert verdient eine Pause. Sie liegt nicht, wie die meisten alten Kirchen, auf einer erhöhten Stelle, sondern bewusst im sumpfigen Grund. So soll auch die Marienstatue, die in dem vergoldeten Schrein auf dem Hochalter die Blicke auf sich zieht, aus Lehm geformt worden. Vor der Kirche steht eine steinerne Stele. „Die Tiere des Waldes huldigen unserer lieben Frau im Walde“, steht darauf.

Bei der langen Abfahrt vom Gampenpass halten wir auf halber Höhe inne. Das Höhenkirchlein St. Hippolyt verlockt zu einem Abzweigen, auch wenn sich der Weg dort hinauf nicht befahren lässt. Mit Rennradschuhen geht es schiebend einen Schotterweg hinauf. Doch es lohnte sich. Der Ausblick vom Hippolythügel ins Etschtal und weit hinüber zu den Dolomiten ist wunderschön. Man könnte von hier aus auf 40 Burgen blicken. Kein Wunder, dass auf dem Hippolythügel die ältesten Spuren der Besiedelung dieser Gegend zu finden sind. Bereits 4000 Jahre vor der Christianisierung war hier ein Brandopferplatz. Das Kirchlein selbst ist romanischen Ursprungs. Hippolyt von Rom gilt als Wetterpatron. Angesichts der durch die Klimaveränderung immer wieder auftretenden Wetterextreme hat dieser Patron wohl eine ganz besondere Aufgabe bekommen. Der „böse Segen“, von dem in einer Hinweistafel bei der Kirche die Rede ist, kommt von den Menschen und ihrem umweltschädlichen Verhalten. Hl. Hippolyt, hilf! Vom romanischen Turm läuten die Mittagsglocken, so als hätte ich sie durch mein Gebet herbeigerufen. Sie läuten an gegen den Motorrad-Lärm auf der Gampenpassstraße.

Im Etschtal radeln wir der Via Claudia Augusta aufwärts. Dieser Radweg ist einer der beliebtesten von Europa – so sind wir auch nicht allein trotz der Hitze des Tages. In Lana zeigt das Thermometer bei einer Apotheke 36 Grad. Meran haben wir weit rechts von uns gelassen. Wenn wir etwas vom Sprühregen der Beregnungsanlagen der Apfelplantagen abbekommen, sind wir dankbar.

Tag 8: Samstag, 21. Juni – Stilfser Joch und Umbrailpass

Eine Fahrt auf das Stilfser Joch ist für unterschiedliche Verkehrsteilnehmende ein absoluter Höhepunkt: Für Rennradler:innen, die die legendäre Strecke mit den weit mehr als 48 Spitzkehren bis auf 2757 m besonders schätzen, weil sie sich mit einer Rundtour über den Umbrailpass optimal verbinden lässt; allerdings sind auch die Motorsportler im wahrsten Sinn des Wortes heiß auf diese Strecke. Für diese war die Strecke heute zum Glück gesperrt. Dafür war heute die Stilfserjoch-Oldtimer-Traktortour. Unglücklicherweise war ihr Startpunkt um 8.30 Uhr fast gleichzeitig mit uns. Daher gerieten wir in den Lärm und den Gestank von rund 300 Traktoren, die bis Trafoi in einem Konvoi fuhren. Erst ab dort bröselten sich die Traktoren auf und ich konnte mich so lange ungestört die Kehren hinaufwinden, bis wieder so ein knatternd-ratterndes-stinkendes Traktorenvehikel überholte. Da tröstete mich der Gedanke, dass heute zumindest bis zur Aufhebung der Sperre keine Motorräder fuhren. Dennoch: Der Widerspruch könnte nicht größer sein. Inmitten einer Bergwelt mit schmelzenden Gletschern – majestätisch strahlten Ortler und Cevedale – und inmitten des Nationalparks Stilfersjoch findet ein solches Event statt. Diese Veranstaltung war jedenfalls für uns fühl- und riechbar ein absoluter Widerspruch zu allen Klimaplänen und den Verpflichtungen, die bzgl. eines Nationalparks eingehalten werden sollten. Allerdings gibt es wohl auch genügend Rennradlerinnen und Rennradler, die oftmals Hunderte von Kilometern fahren, um dann ihre Räder aus den Autos zu nehmen und einen Pass hochzufahren. Ich bin froh, anders unterwegs sein zu können.

Die Gemengelage von Motorrädern und ihren Rittern in dicken Leder- und Kunststoffdressen, von Oldtimer-Traktoren und den Männern in Lederhosen, die Frauen wie Beute-Stücke auf ihren Sitzen platziert haben, von Rennradler:innen, die alle irgendwie stolz sind, den höchsten Alpenpass erreicht zu haben, sei es von Bormio oder von Prado aus, von Souvenirgeschäften mit Stelvio-Kitsch und von Würststandln, die ihren Duft verstreuen – das Sauerkraut konnte man schon vor der letzten Kehre riechen. Nochmals blicke ich lieber zum Ortler hinüber und bin froh über die Abfahrt mit dem kurzen Gegenanstieg auf den Umbrailpass und dann hinunter ins schweizerische Val Müstair. Selbst auf der engen Straße lassen sich die nun verstreuten Traktoren gut überholen – und ich entdecke in mir Schadenfreude, dass die Sportwagenfahrer – da muss nicht gegendert werden! – ebendies nicht können. Als ich zuletzt vor zwei Jahren beim Dreiländer-Giro diese Strecke fuhr, war keine Zeit zu einem Besuch der romanischen Kapellen, die entlang der Strecke liegen. Das lässt sich nun gut nachholen.

Tag 9: Sonntag, 22. Juni – Der Etsch entlang hinauf zu den Seen am Reschenpass und hinunter ins Obere Inntal

Sonntagsstimmung. Der letzte Tag des selbstgestrickten Giros durch Alpenlandschaften Tirols, Graubündens, der Lombardei und des Trentinos. Zum letzten Mal werden die Satteltaschen montiert. Mehr brauchen wir nicht, als darin Platz findet. So kann wieder erfahren werden, wie wenig es wirklich braucht, um unterwegs zu sein – ja, dass gerade die Wenigkeit wichtig und wertvoll ist.

In Mals weist ein Transparent auf eine Besonderheit hin. „Pestizidfreies Mals“ steht darauf. Zufällig treffe ich dann auch Werner Kräutler, der diese Umweltinitiative mitbegründet hat. Die kleinen und uralten Dörfer am Rande der Malser Heide sind mit rot-weißen Fahnen geschmückt. An den Kirchtürmen flattern die gelbweißen katholischen Fahnen. Überall werden in Südtirol an diesem Sonntag nach Sonnwend die Prozessionen abgehalten. Eine Musikkapelle geht durch eine enge Gasse von Burgeis, oben in Reschen halten wir inne, als das Allerheiligste unter dem Himmel an uns vorbezieht. Wir begegnen einer religiösen Tradition, die Gemeinschaft schenkt und bereit ist, ihren Glauben nach außen zu tragen. Jesus wird symbolisch in der Monstranz durch die Gassen und über die Felder getragen. Unsere Zeit hat die jesuanischen Gedanken des Gewaltverzichts, der Feindesliebe, der Barmherzigkeit, der Versöhnung und gnadenhaften Geliebtseins so nötig!

Zuvor hörte ich die Nachricht, dass Donald Trump den Iran mit Kampfflugzeugen angreifen ließe. Das ist so das Gegenteil von der jesuanischen Botschaft der Gewaltfreiheit und des Gewaltverzichts. Ich spüre trotz der Schönheit der Natur und Kultur, die mir beim Radfahren begegnen, die politische Verzweiflung in mir. Da passen dann wohl auch die narzisstischen Motorradgeräusche dazu, die auf der Reschenstraße irgendwelche Rennen abzuhalten scheinen. „Gelobt sei das allerheiligste Sakrament des Altars…“ steht auf einigen gestickten Decken, die Einheimische anlässlich der Prozessionen aus den Fenstern hängten.

Der Radweg geht in steilen Rampen oder sanften Steigungen zu den Seen am Reschenpass hinauf. Rechts davon fließt nun die Etsch als kleiner Bach. Ich denke an viele Orte, die entlang dieses zweitlängsten Flusses Italiens liegen, an Orte, durch die wir vor zwei Tagen fuhren oder die mir bedeutsam sind: an Lana, an Bozen, an Kurtatsch, an Trient, an Verona und dann – gut 400 Kilometer flussabwärts – an Chioggia an der Adria. Die strahlendweißen Gletscherhänge am Ortler sind weit im Hintergrund. Dabei denke ich wieder an den Dokumentarfilm „Requiem in Weiß – vom würdelosen Sterben der Gletscher“ von Harry Putz. Die Masse von Motorrädern und Autos, die sich an diesem Sonntag über die Alpenpässe wälzt, trägt zum Sterben bei.

Der Kreis des Giros schließt sich. Die Abfahrt von Nauders durch die Galerien und Tunnels der Reschenstraße ist teils nervig und für Radfahrende nicht so ratsam. So sind wir froh, bei  Pfunds wieder heil dem Massenverkehr zu entkommen, und radeln entspannt die letzten Kilometer entlang des Inns hinunter. Bei Prutz gibt es noch die letzte Stärkung bei der Sauerbrunnquelle.

Ich spüre Dankbarkeit für jeden der 765 Kilometer und 13.308 Höhenmeter und all das, was mir dabei begegnet ist, was sich ereignete – und vor allem auch der Teamgeist, der dies möglich gemacht hat.

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