all all all … alone

Die Regentropfen passen zu meiner Stimmung. Sie sind wie Tränen vom Himmel. Meine Gedanken sind bei Dutzenden Kriegen, die es in der Welt aktuell gibt, den neuen Kriegen, die mit massiver Aufrüstung vorbereitet werden, und den Kriegen der Vergangenheit, die mir regenspazierend durch Wien in Erinnerung gebracht werden. Diesmal beginnt meine Gedankenreise beim mächtigen Justizpalast. Eine Tafel erinnert dort an die Schreckenszeit von 1938 bis 45: „In diesem Haus wurden in der Zeit der ‚Annexion‘ Österreichs durch Nazideutschland Österreicherinnen und Österreicher wegen ihres Widerstandskampfes gegen das NS-Unrechtssystem zum Tode verurteilt und in der Folge im Wiener Landesgericht hingerichtet. Ihr Kampf für ein freies, unabhängiges Österreich bleibt unvergessen.“  Dankbar denke ich an diese Menschen, die nicht mitgeheult haben mit den Mördern, die nicht mitgelaufen sind mit den Schlächtern, die sich widersetzt haben – oft einsam und alleine. Ich meide die Weihnachtsmärkte, wo sich in diesen Tagen punsch-glühweintrunken Massen zwischen den Standln drängen. Der Heldenplatz ist abgesperrt. Hier findet gerade die OSZE-Konferenz statt. Wenn doch die Herren und Damen in einflussreichen Ämtern ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen würden, um nicht Kriege zu verlängern, sondern Frieden zu schaffen! Es gibt keine bessere Sicherheitsarchitektur als die OSZE.

Ich nehme mir Zeit für das Deserteursdenkmal am Rande des Ballhausplatzes. Im Vergleich zu den vielen Heldendenkmälern und Prunkbauten wirkt es unscheinbar, verloren, wie ein Stolperstein, dem man ausweicht. Die Touristengruppen gehen daran vorbei. Ihre Guides mit den hochgehaltenen Schirmen, an denen meist eine bunte Schleife baumelt, bleiben nicht stehen. Beim Deserteursdenkmal werden keine Smartphones gezückt, keine Selfies gemacht. Es ist kein Instahotspot. Alleine klettere ich die drei Stufen des Sockels auf das Mahnmal. Der Künstler wollte auch, dass der schwarze Sockel achtsam erklettert wird. Nur von oben wird die Symbolik begreifbar. Es ist das erste österreichische Denkmal für Deserteure. Erst im Jahr 2014 wurde es von der Stadt Wien errichtet. Es will vor allem an die Verfolgten der NS-Militärjustiz erinnern. 30.000 Todesurteile wurden von ihr verhängt. Die meisten Todesurteile betrafen Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ In meiner außerschulischen und schulischen Friedensarbeit waren mir konkrete biografischen Bezüge zu Opfern der NS-Militärjustiz sehr hilfreich. Während ich auf dem schwarzen Sockel stehe, denke ich beispielsweise an Franz Jägerstätter und Carl Lampert. Erst im Jahr 2009 wurden die von der NS-Militärjustiz Verurteilten vom Staat Österreich rehabilitiert und galten nicht mehr als „Verbrecher“.

Der Regen hat die schwarzen glattpolierten Steinblöcke nass gemacht. Sie bilden ein großes X. Auf den beiden Querbalken steht bis zum Kreuzungspunkt „all … all … all“. Im Scheitelpunkt aber dann: „alone“. Die Skulptur des Künstlers verbindet so die klassischen Elemente eines Mahnmals von Sockel einerseits und Inschrift andererseits, setzt sie aber anders um, als sie in den Kriegsdenkmälern landauf landab zu finden sind. Der Einzelne wird, so die Idee hinter dem Mahnmal, in bestimmten Machtkonstellationen zu einem X in einer Akte, bleibt aber dennoch in seiner Mitte eine Person, die sich der Fremdbestimmung entziehen und eigenständig gegen ein Herrschaftssystem handeln kann.

klaus.heidegger, 7.12.2025

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