
Ich besuche die aktuelle Ausstellung in der Albertina Modern. Die Retroperspektive zeigt einige der bekanntesten Werke aus dem fünfzigjährigen Schaffen von Marina Abramovic. Allein das eine Bild, das ich von ihr kannte und gerne bei meinen Vorträgen zu Friedensthemen verwendete, hätte mir schon genügt, um mich mit der weltweit bekanntesten Performance-Künstlerin zu beschäftigen. „The Hero“ heißt jenes Bild, das für mich auf geniale Weise eine Antikriegsbotschaft ausdrückt. Ich sehe es in der Albertina erstmals in jenem Format, wie es von der Künstlerin geschaffen worden ist.
Abramovic sitzt auf einem weißen Pferd und hält eine weiße Flagge in der rechten Hand. Sie evoziert dadurch eine Verbindung von Stärke, moralischem Mut und Kapitulation. In der Ausstellung wirkt das Bild noch mehr, weil es nicht als Bild geschaffen wurde, sondern als Performance. Abramovic sitzt ganz ruhig auf dem Pferd. Nur ihre Haare bewegen sich und die weiße Flagge flattert im Wind. Ruhig steht auch das kräftige Pferd, auf dem sie sitzt. Im Hintergrund läuft Musik.
Ich denke an den nun schon fast vierjährigen Krieg in der Ukraine und an die vielen Diskussionen, in die ich seither selbst verstrickt wurde. Bis zum heutigen Tag lautet das herrschende Narrativ: Man müsse sich militärisch gegen den Aggressionskrieg Russlands wehren; man müsse den Krieg gewinnen; man müsse die besetzten Gebiete zurückerobern. Wegen dieser Logik werden weiter Unmengen von Waffen in die Ukraine gepumpt, sterben auf beiden Seiten der Front Menschen, werden Soldaten der russischen Armee erschossen und verstümmelt. Eine Million sollen es bereits sein. Im Zusammenhang mit den Waffenstillstandverträgen wird vom „Westen“ eine Politik verfolgt, die Kapitulation als Schwäche und Feigheit sehen. So wird das alte Muster von militärischer Stärke beschworen, dem man bereit ist, Tausende auf dem Schlachtfeld zu opfern und die Zerstörung von Städten und Landstrichen in Kauf zu nehmen.
Abramovic zeigt mit ihrer Performance, dass Kapitulation nichts mit Feigheit und Schwäche zu tun haben, sondern mit moralischer Stärke und Entschlossenheit. Ein paar Stunden zuvor ging ich über den Heldenplatz in Wien. Seit Jahrhunderten wird ein anderes Heldentum zelebriert. Auch dabei spielen Pferde eine Rolle. Der Heldenplatz wird beherrscht von den monumentalen Reiterstatuen der Feldherren Prinz Eugen und Erzherzog Karl. Beide haben sie Tausende in Schlachten getrieben und Kriege gewonnen oder verloren. Wild bäumt sich das Pferd von Prinz Eugen auf – nicht friedlich, wie jenes von Abramovic. Die Krieger haben Schwerter und keine weißen Fahnen. Das hätte auch nicht gepasst zu den habsburgerischen Imperatoren und deren Kriegen.
Das Bild „The Hero“ von Abramovic passt zu ihrer gesamten künstlerischen Botschaft. Nacktheit spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Mensch kann sich als verletzlich zeigen, ganz ohne Rüstung, ganz ohne Kleidung – und wird gerade in seiner Schutzlosigkeit nicht verletzt.
klaus.heidegger, Mariä Empfängnis 8.12.2025