Ein Zuckerhütl in Tirol und eine meiner Geschichten mit ihm

Der Name „Zuckerhütl“ ist wohl ein Deminutivum für die formschöne und bekannteste Schnee-Eis-Firn-Fels-Geröll-Gestalt im hintersten Stubaital. Tiefgestapelt ist der Name „Zuckerhütl“ für einen Berg mit 3507 Metern auch angesichts dessen, dass er die höchste Erhebung in den Stubaier Alpen ist. In meinem Alltagsleben gibt es keine realen Zuckerhuts-Anschauungsmöglichkeiten, doch stelle ich mir vor, wie sich herabrinnender Zucker mit einem dicken Bauch unten füllt, während nach oben hin die Gestalt immer spitziger wird. Tatsächlich liegt im gleichnamigen Gipfel unten wie zerronnener Zucker der Schnee des Stubaier Gletschers – eher eine Ansammlung verschiedener Ferner – über dem das Zuckerhütl als steiles Dreieck kühn herausragt, spitziger als und doch ähnlich wie sein Namensberg, der Zuckerhut in Rio – ja, und auch das winterliche Salatgemüse namens Zuckerhut ähnelt unserem heutigen Skitouren-Bergziel.  Wo ich früher wohnte, dort konnte ich jedenfalls vom Haus aus hinein in den Talabschluss des Stubai blicken, hin zum Gletscher und zum Zuckerhütl. Im Sommer freilich ist das Zuckerhütl längst nicht mehr weiß wie Zucker. Der auftauende Permafrost und der Verlust der Firnkappe führen zu Steinschlag und eine Besteigung im Sommer ist wenig ratsam. Die lokalen Bergführerinnen und Bergführer führen ihre Gäste lieber auf die Madonna – quasi der Westgipfel vom Zuckerhütl, der auch als einer der Seven Summits des Stubai gilt.

Der erste Teil unserer Tour wird mit der machtvollen Technikhilfe erledigt. Die Stubaier Gletscherbahnen bringen uns auf 3116 m bis zum Schaufeljoch. Wir sind unter den ersten, die von der Bergstation der Stubaier Gletscherbahnen rund 300 Höhenmeter auf der Südseite in die Senke hinunterfahren, über Ratrac-Spuren anfangs noch, einen schon leicht aufgeweichten Firnhang dann, eine vereiste Querung und schließlich wird aufgefellt. Die Hildesheimer Hütte ist am Bergrücken über uns im Westen und erzählt mir vom Beginn einer ganz anderen bedeutungsvollen Geschichte vom vergangenen Sommer. Aber zurück zum Heute. Die Aufstiegsspur ist griffig. Harscheisen braucht es keine. Unsere beiden Begleiter zählen wohl zu den Menschen, die die Routen rund um das Zuckerhütl bestens kennen und sehr viel Sicherheit vermitteln. Höhenmeter sind es nicht viele. Die hochalpine Landschaft ist erhebend. Einige andere Gruppen sind noch unterwegs. In einem weiten Bogen geht es vorbei an der Nordwand des Zuckerhütl auf das Pfaffenjoch, in dessen Nähe das Skidepot ist. Von meinen letzten Zuckerhütl-Besteigungen wusste ich schon, dass der Gipfelaufbau über eine Rinne in der immer schmaler werdenden Ostflanke nicht so einfach ist und zur Sicherheit hatte ich gleich zwei Pickel dabei – wobei ich einen davon während des Abstiegs jemandem, der knapp hinter mir abstieg, dann borgen konnte. Der Aufstieg ist mit Schwierigkeitsgrad I bewertet, was nicht viel heißt, weil es geht vor allem um die Steilheit – die teilweise bis zu 50 Grad beträgt. An ein paar Stellen sind die Felsvorsprünge mit bröseligem Schnee bedeckt.  Es bedeutet über einen längeren Zeitraum: Nerven bewahren. Jeden Schritt sorgfältig wählen. Die Zacken der Steigeisen in den zum Glück meist guten Stapfspuren zu platzieren und mit dem Pickel zusätzlich noch einen Ankerpunkt zu finden. Leider erleben wir rund 50 Meter unter uns einen „Massenabsturz“, bei dem ein einzelner noch vier weitere Personen mitreißt. Wären wir nur wenige Minuten früher wieder abgestiegen, so hätten auch wir mitgerissen werden können. Einmal mehr soll also hier gesagt sein: Ohne Steigeisen und Pickel – vielleicht auch zwei – soll der Aufstieg nicht gewagt werden. Seilsicherungen sind bei diesem Aufstieg ohnehin nur schwer möglich. Zum Glück kommen gleich drei Hubschrauber, die die Verletzten mitnehmen.

Schon etwas emotional gedämpft beginnt dann die teils steile und grandiose Abfahrt hinunter über den Sulzenau Ferner, wo auf der westlichen Seite eine mächtige Spaltenzone ist und auf den Hängen zum Pfaffengrat Lawinenrutsche sind und Steine sich in der Wärme des Tages aus den Moränen lösen. Nochmals gilt es dann, rund 250 Höhenmeter den Anstieg auf das Beiljoch zu nehmen und es folgt eine perfekte Abfahrt in firnweichem Schnee hinunter ins Tal zum Ausgangspunkt.

Es ist Anfang April und warm wie im Sommer. In der Landeshauptstadt könnte bereits die 30-Grad-Marke geknackt werden. Noch nie in der Messgeschichte gab es so warme Temperaturen. Menschen von Fridays for Future, Extinction Rebellion, Letzte Generation und Scientists for Future machen vor dem Landestheater ein 48-stündiges Widerstandscamp. Es soll Widerstand gegen die bleibende Ignoranz der Politik und der Individuen in der Frage der Erderhitzung symbolisieren. Ich komme vom Gletscher, auf dem Menschen mit T-Shirt unterwegs sein konnten. Erst gestern wurde berichtet, dass der Fernau-Ferner hinten im Stubai zuletzt wieder 68 Meter im Jahr an Länge verloren habe. Der Sahara-Staub auf den Schneeflächen ist reales Zeichen dafür, wie vernetzt unsere Welt ist. Er kommt aus jener Weltgegend, in der sich die katastrophalen Folgen des Klimawandels besonders zeigen. Ich denke an ein Werbesujet einer großen Versicherungsagentur. Dort lautet der Spruch zu einem romantischen Bild: „Klima bewegt gemeinsam!“ Das gibt trotz allem Hoffnung. Die Erfahrung mit der Zuckerhütl-Besteigung zeigt, dass sich Gefahren meistern lassen: Gemeinsam, mit Entschlossenheit, mit Rücksichtnahme, mit Willens- und Nervenstärke, mit Verzicht auf einen klimaschädlichen Lebensstil und indem Schritt für Schritt die richtigen Schritte gesetzt werden.

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