
Verschlafen liegt die kleine Ortschaft Niederthai in einem kleinen Seitenhochtal des stets belebten Ötztals. Fast wie auf die Seite gelegt im Vergleich zu den Ortschaften wie Sölden. Aus der Zeit gefallen, denke ich mir. Nur ein paar Häuser gruppieren sich um die kleine barocke Kirche mit dem markanten roten Zwiebelturm. Die stolzen Gipfel des Geigenkamms leuchten auf der anderen Seite des Tales hinüber. Weit und breit ist sonst niemand, der an diesem Tag noch auf dieser weniger oft begangen Route den Breiten Grieskogel (3287m) anpeilen würde. Mein Freund kennt diese Route sehr gut. Einmal bin ich sie schon vor ein paar Jahren mit ihm Anfang Jänner gegangen. Nur kurz müssen wir auf dem Weg, der zunächst im Hoarlachtal Richtung Schweinfurter Hütte führt, die Ski tragen. Wir folgen aber nicht dem Forstweg zur Hütte, die wegen des Schneemangels früher als geplant schließen musste, sondern steigen hinauf ins Grastal, das zurecht diesen romantischen Namen verdient. Die Schneerutscher und Nassschneelawinen links und rechts des Trogtales sind in den vergangenen Tagen schon abgegangen. Noch ist es kalt, die Spur leicht eisig, Bergeinsamkeit in seiner schönsten Form. Über einen steileren Abbruch kommen wir zum zugefrorenen Grastalsee. Das Eis ist mit Schnee bedeckt. Wir ziehen die Spur darüber in der Hoffnung, dass es unser Gewicht hält. Danach folgt eine steilere Rinne. Noch ist der Schnee darin pickelhart. Ich ziehe die Steigeisen an und schnalle die Ski auf den Rucksack. Aus Versehen wähle ich nach einem weiteren Aufstieg dann eine noch steilere Rinne, in der ich mitten in der Steilheit Steigeisen anziehe und Ski auf den Rucksack schnalle – für mich eine kleine Herausforderung. Ganz weit ist dann oben der Grastalferner und darüber mächtig schön der Gipfelaufbau des Breiten Grieskogels. Noch beeindruckender sind aber fast die Südwände des Strahlenkogels im Norden des Ferners. Quarzschichten und andere tektonischen Linien in verschiedenen Weiß-, Rot-, Grau- und Schwarzziehen durchziehen die Struktur des stolzen Berges mit dem scharfen Westgrat. Der Grieskogel wirkt dagegen fast lieblich-sanft. Mitten in der steilen nordöstlichen Gipfelwand queren wir hinüber auf den Gratrücken, der nordwestlich dann auf den Gipfel führt. Mir ist bei der Querung etwas mulmig. Im Gletscher weit unten am Wandfuß soll es Spalten geben. Da möchte ich nicht hineinrutschen. Am Normalanstieg von der Winnebachseehütte ist noch eine andere Gruppe unterwegs. Die Abfahrt entlang der Steilwand, im Pulver hinunter zum Grastalferner und die Steilrinnen weiter zum See – dort löst sich schon in der Wärme des Frühlings der Schnee und das Geröll am Rande des Gletschers ist locker-bröselig, Permafrost bricht auf, vorbei am See und wieder nun im Firn hinaus durch das Grastal zum Ausgangspunkt in Niederthai. Noch kann ich die Eindrücke von zwei Gletschern in den Stubaier Alpen gut mitnehmen. 2025 ist das Jahr der Gletscher. Sechs befinden sich im Gemeindegebiet von Umhausen. Einer davon ist schon ganz verschwunden. Der Grastalferner wird wohl einer der nächsten sein. Werden ihn meine Enkel noch sehen können? Es hängt wohl davon ab, wie enkeltauglich wir leben.
(8. 5. 2025, klaus.heidegger)