Die Anschläge in Paris, Beirut und Bagdad vom November 2015 und die Brutalität der Terrorgruppen des selbsternannten „Islamischen Staates“ scheinen auf den ersten Blick jenen Stimmen Recht zu geben, die den Vorrang der Ethik vor der Religion propagieren. „Imagine no religion …“ wird als Antwort auf den islamistischen Terror genannt und immer wieder wird Religion per se als Ursache für Gewalt gewertet. Bereits im Jänner 2015, nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo und jüdische Einrichtungen in Paris, wurde der Dalai Lama mit folgenden Worten zitiert: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten.“ Solche Aussagen finden ihre Resonanz bei denen, die den Religionen kritisch bis ablehnend gegenüber stehen. Man beruft sich auf den Dalai Lama und spricht vom Gewaltpotenzial, das in den Religionen stecken würde, übersieht aber geflissentlich, dass die Religionen in sich Wege der Überwindung von Gewalt beinhalten. Die aktuellen Ereignisse nähren diese Form der modernen Religionskritik und damit oftmals auch atheistischer Positionierungen. Auf schulischer Ebene werden Entwicklungen gefördert, die den Religionsunterricht schrittweise durch einen Ethikunterricht ersetzen werden.
Die Position, dass Ethik den Vorrang vor Religion haben muss, findet Gehör und Anklang. Dabei denke ich an jenes kleine Büchlein vom März 2015, das ein Interview mit dem Dalai Lama enthält und in den letzten Monaten zum Bestseller geworden ist. Der populistisch-pointierte Titel lautet: „Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Ethik ist wichtiger als Religion.“ Darauf möchte ich in diesem Beitrag eingehen.
Das Büchlein selbst hat alle Voraussetzungen, ein Bestseller zu sein. Als Herausgeber fungiert „Benevento Publishing“ und dahinter steht der Red Bull-Konzern. Die ethische Fragwürdigkeit von Red Bull – beginnend mit dem Hauptprodukt der aludosenverpackten Energydrinks bis hin zu den wahnwitzigen Motorsportveranstaltungen – ist eigentlich offensichtlich. Es scheint, als möchte sich Red Bull durch eine Verbindung mit dem Dalai Lama ein ethisches Mäntelchen umhängen, um damit Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung zu verschleiern. Es mutet tatsächlich seltsam widersprüchlich an, wenn der Dalai Lama Ressourcenvergeudung und Umweltzerstörung anprangert, zugleich aber dies in einer Publikation von Red Bull tun darf. Der Preis des Büchleins von unter 5 Euro, die Länge von kleinen 56 Seiten, die gleichzeitige Auflage in acht verschiedenen Sprachen als E-Book, das gratis herunter geladen werden kann, und vor allem die Persönlichkeit des Friedensnobelpreisträgers sind Faktoren, die für eine Massenauflage geeignet sind – und die Masse ist das Geschäft von Red Bull.
Der Inhalt des Buches basiert auf einem Interview von Franz Alt mit dem Dalai Lama. Seine zentrale These lautet, dass eine säkulare Ethik besser sei als Religion bzw. dass wir eine Ethik jenseits der Religionen bräuchten. Im Vorwort zieht Franz Alt daraus die Folgerung: „In den Schulen ist Ethik-Unterricht wichtiger als Religionsunterricht. Warum? Weil zum Überleben der Menschheit das Bewusstsein des Gemeinsamen wichtiger ist als das ständige Hervorheben des Trennenden.“ Auf den ersten Blick scheint diese These plausibel und rational zu sein.
Erstens jedoch zeigt sich sofort, dass unterschiedliche ethische Positionierungen genauso zu Trennungen und Konflikten führen können. Um es an einem Beispiel fest zu machen: Sowohl die Aufnahme von Flüchtlingen wie die Abschottungspolitik werden ethisch gerechtfertigt. Während die einen sagen, man müsse gegenüber den Flüchtlingen Humanität zeigen, argumentieren andere, dass die Aufnahme von Flüchtlingen zu Zerreißproben in den Aufnahmeländern führen würde und auf Dauer den Frieden in diesen Ländern gefährden würde. Aus religiöser Sicht, so könnte nun argumentiert werden, gibt es aber nur eine Position. Alle Religionen betonen im Kern die Gastfreundschaft und die Verpflichtung, den Notleidenden zu helfen. Analog lässt sich auch in der Frage der Gewalt argumentieren: In der Mitte aller großen Religionen steht die Botschaft vom Gewaltverzicht und der Verurteilung von Gewalt. Demgegenüber wurden die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ethisch gerechtfertigt. Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geschah mit der Legitimation, den Krieg zu beenden. Jeder Krieg wird letztlich ethisch gerechtfertigt. Die Kraft zum Gewaltverzicht, die wiederum dem religiösen Oberhaupt der Tibeter so wichtig ist, kann jedoch wesentlich aus einer religiösen Grundhaltung – beispielsweise durch eine Orientierung an dem Vorbild Jesu Christi – entspringen.
Zweitens argumentiert der Dalai Lama, dass es in den Menschen eine Spiritualität jenseits jeder Religion geben würde, die zu Einheit und Frieden führen könne. Dem Menschen angeboren sei diese ethische Grundkonstante, nicht aber die Religion. Religion erscheint damit sekundär, Ethik primär; Ethik scheint innerlich zu sein, Religion komme äußerlich dazu. Ethik sei das Wasser und Religion ein Teebeutel, der auch verzichtbar sei. Ein Mensch würde ohne Religion auf die Welt kommen, nicht aber ohne Ethik. Dagegen kann aber eingewendet werden: Was ist Religion überhaupt? Sind nicht schon die Erfahrung von Geborgenheit im Mutterleib, die Erfahrung von Mutter- und Vaterliebe oder die Erfahrung von Gemeinschaft und Solidarität religiöse Grunderfahrungen, weil in ihnen zugleich die Güte und Größe und die Zärtlichkeit und Kraft Gottes spürbar werden. Liebe ist wohl die stärkste positive Kraft der Menschen und zugleich die religiöse Grundkategorie schlechthin. Dabei können wir zugleich die positive Dialektik von Nächsten- und Gottesliebe buchstabieren. Nächstenliebe kommt nicht zur Gottesliebe hinzu, sondern Gottesliebe realisiert sich in Nächstenliebe wie sich Nächstenliebe in Gottesliebe realisiert, ohne dass beide wiederum vollständig ineinander aufgehen würden. Wenn aber Gottesliebe und Religion als Widerspruch zu Nächstenliebe und Ethik konstruiert werden, so bedeutet dies ein Mangel an dialektischem Verständnis; dann wird Religion in ihrer Immanenz und empirischen Realität nicht wahrgenommen. Wenn der Dalai Lama Ethik als etwas Angeborenes, Religion aber als etwas Anerzogenes definiert, dann wird in dieser Argumentation die so gefährliche Trennung von Religion und Ethik vollzogen. Mein Einwand lautet: In jeder Religion steckt so viel Ethik, allein deswegen ist Religion immer schon zugleich auch angeboren und anerzogen, und zugleich wird jede Ethik auch immer mit Erziehung zu tun haben. In Zeiten, in denen der Religionsunterricht in Frage gestellt wird, können die Thesen „Kinder sollten Moral und Ethik lernen. Das ist hilfreicher als Religion“ und „Ethik geht tiefer und ist natürlicher als Religion“ trotz meiner hohen Wertschätzung für den Dalai Lama nicht unwidersprochen bleiben. Würde der „Appell“ des Dalai Lama im Bildungsministerium programmatisch rezipiert werden, so müsste gleich der Religionsunterricht flächendeckend durch einen Ethikunterricht ersetzt werden.
Der Blick auf die Geschichte zeigt, dass jeder historische Versuch, die Religion abzuschaffen oder zu bekämpfen, in Despotien geendet hat. Von Robespierre über Stalin, Hitler, Mao bis zu den Roten Khmer, die Abschaffung des Religiösen endete in Schreckensherrschaften. Der Dalai Lama möchte sicher nicht die Religionen abschaffen, doch sein Konzept einer „säkularen Ethik“ und ihrer Überlegenheit gegenüber der Religion könnte dafür missbraucht werden. In manchen Passagen spricht der Dalai Lama auch differenzierter vom Missbrauch der Religionen für gewalttätige Exzesse und nicht davon, dass die Religionen von ihrem Wesen her gewalttätig seien. Die Argumentation des Dalai Lama ist in sich selbst nicht konsistent, wenn er einerseits so deutlich den Vorrang der Ethik vor der Religion herausstreicht, andererseits aber wieder die Liebe als Kern jeder Religion nennt und damit den Wert der Religionen hervorhebt.
Frieden in der Welt, so möchte ich abschließend postulieren, entsteht nicht durch weniger Religion, sondern indem in den Religionen jene Kräfte und Haltungen entdeckt werden, die von dem Dalai Lama eingefordert werden: Achtsamkeit, Mitgefühl und Gewaltverzicht. Es kann und darf nicht darum gehen, Religion und Ethik gegeneinander auszuspielen, sondern ihre Verwiesenheit aufeinander zu entdecken. Dies hat auch Konsequenzen für das Bildungssystem. Gerade angesichts religiöser Fundamentalismen brauchen wir ein Mehr an aufgeklärter religiöser Bildung, eine kritische Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften und eine rationale Auseinandersetzung mit den religiösen Grundlagen. Was mich an manchen Aussagen des Dalai Lama irritiert, sind undifferenzierte Entgegenstellungen: So wird beispielsweise die Meditation gegenüber dem ritualisierten Gebet ausgespielt. Ist aber nicht auch das ritualisierte Gebet, wie beispielsweise das Rosenkranzgebet, eine Form der Meditation? Brauchen wir nicht beides? Religionen und Ethik sind aufeinander bezogen. Religiöse Fundamentalisten berauben die Religionen einer ethischen Rationalität. Falsch wäre es nun, die friedensstiftenden Funktionen der Religionen auszublenden und in Abrede zu stellen. Wenn ich an die Logik der Ökoenzyklika Laudato Si von Papst Franziskus denke, dann folgt daraus: Nicht Religionen sind schuld an der Zerstörung der Umwelt und der Klimakatastrophe, sondern die Negation und Vernachlässigung jenes religiösen Grundempfindens, in dem die Umwelt als Schöpfungswerk Gottes erlebt und verstanden wird. Nicht weniger Religion kann die Welt retten, sondern der Mehrwert der aufgeklärten Religionen mit ihren befreienden ethischen Impulsen wird zu Frieden, Gerechtigkeit und Einheit mit der Schöpfung führen.
Klaus Heidegger, 18. November 2015
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