Jesus klopft an die Tür …

Light of the world smallJesus klopft an die Tür …

Wenn ich unterwegs bin – wie zuletzt zwei Wochen in England – dann zählt es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, Kapellen und Kirchen aufzusuchen: Kleine, unbedeutende, irgendwo fernab von den Menschenmengen, an der kornischen Küste bis hin zu den Hauptkirchen des Vereinigten Königreiches. Dann wiederum geschieht es, dass ich an einem Bild, einer Skulptur oder einfach einem Hinweisschild hängen bleibe. Nach zwei Wochen solcher kirchlichen Englanderfahrungen könnte ich nun von vielen Begegnungen mit Kirchen schreiben. Eine davon passt zum heutigen Sonntagsevangelium, wo auch von einer Tür die Rede ist.

Das große Ölgemälde hängt im linken Seitenschiff der St Paul’s Cathedral, also dem wichtigsten Nationalheiligtum der Church of England. Es trägt den Titel “Light of the World”. Gemalt wurde es zwischen 1900 und 1904 von William Holman Hunt. Der Künstler hatte bereits zwei gleiche Bilder gemalt. Als er die erste Fassung schuf, war er noch Agnostiker. Durch die Auseinandersetzung mit diesem Bild fand er zum Glauben. Das Bild zählt zu den meistverbreiteten Darstellungen in der protestantischen Welt, wo Bilder eine ganz andere Bedeutsamkeit haben als im katholischen Bereich. Dass überhaupt ein Bild in jener Kirche hängt, die sich aus Abgrenzung gegenüber der katholischen Kirche in der Zeit der Trennung der Kirchen bewusst gegen Bilder aussprach, zeigt heute eine Versöhnung im Konfessionsstreit vergangener Jahrhunderte an.

William Hunt’s „The Light of the World“ gilt als so kostbar, dass es während des Zweiten Weltkrieges an einen sicheren Ort gebracht wurde, um vor den Bombenangriffen der Nazis sicher zu sein. Heute ist es in einem feuersicheren Schrank, dessen Wände sich bei Feuer von selbst schließen würden.

Es geht William Hunt bei diesem Bild um die Umsetzung eines Bibelverses aus dem Buch der Offenbarung, Kapitel 3,20. Dieser steht unten am Bildrahmen: „Behold, I stand at the door, and knock; if any man hear my voice, and open the door, I will come in to him, and will sup with him, and he with me.“

Jesus steht in einem Obstgarten. Er wird in weißem Kleid mit würdevollem Umhang und Dornenkrone als der auferstandene König dargestellt. Seine Augen blicken voller Geduld den Betrachtenden an. Das Licht geht von einer Laterne aus, die er in seiner linken Hand trägt. Mit seiner rechten Hand klopft er an die Tür eines Gartenhauses, das mit Unkraut schon ganz überwachsen ist, so als wäre sie lange nicht mehr geöffnet worden. Diese Tür hat von außen allerdings keine Schnalle. Sie kann nur von innen geöffnet werden.

In diesem Symbol wird so deutlich sichtbar, wie Jesus die Seele eines Menschen erreichen möchte. Er klopft fast zärtlich an die Tür. Er kann sie gar nicht selbst öffnen. Es ist die gewaltfreie Strategie Jesu, nicht einzudringen. Auch wenn durch Vernachlässigung oder gesellschaftliche Umstände die Tür schon ganz zugewachsen scheint, das Klopfen Jesu symbolisiert: Sie lässt sich öffnen. Dann kann der Mensch in das Paradies kommen, das in diesem Bild durch die Apfelbäume symbolisiert wird. Dann können wir Mahl halten mit Jesus in unserer Mitte.

Ein Aspekt könnte bei diesem Bild in der gegenwärtig so bedeutsamen interreligiösen Debatte leicht übersehen werden. Das Licht aus der Laterne, die Jesus trägt, leuchtet oben durch Öffnungen, die sowohl den Davidstern des Judentums als auch den Halbmond des Islam darstellen könnten. So hat der Maler, vielleicht unbewusst, auch dargestellt, dass dieses Licht des Heils auch in den anderen Weltreligionen zu finden ist.

Klaus Heidegger, August 2016