Ötztaler Radmarathon als Herausforderung angenommen

Vorbereitungen – die Tage davor

Seit 19. März 2017 bin ich laut meinen Eintragungen beim Fahrradwettbewerb von Klimabündnis Tirol 8153 Kilometer und 117.317 Höhenmeter mit meinen Rädern gefahren: Das meiste mit dem Rennrad, aber auch mit Mountainbike und die Arbeitswege zur Schule und nach Innsbruck mit meinem Trekkingrad. Das sind nicht wenige Trainingskilometer. Durchschnittlich 49 Kilometer pro Trag. Doch einerseits ist das laut Angaben in den Internetforen das untere Limit, welches für den Ötztaler angegeben wird – manche fahren weit über 10.000 Kilometer – und andererseits sind diese Kilometer bei mir meist im Wohlfühlbereich, entsprechen also nicht den Trainingsvorgaben von schnellem Rennradfahren bei Wettkämpfen. Auf meinem Trainingskonto stehen  keine anderen Radrennen, keine Trainingslager und superschnellen Ausfahrten mit Intervalltraining. Fremd sind mir Wattmessungen, wie sie heute für einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Radrennen schon Standard sind. Überhaupt bringe ich Null Wettkampf-Radrennerfahrung mit. Mein Radfahren erfüllt im Wesentlichen den Zweck, die Natur zu genießen, Arbeitswege zu erledigen, zu einer Berg- oder Skitour aufzubrechen oder um mit lieben Menschen unterwegs zu sein. Selbst bei Rennradtouren bremse ich gerne für einen Blick in die Landschaft oder einen Besuch in einer Kirche auch gerne ab, bolze nicht einfach drauflos. Es ist also schon etwas vermessen, dass ich da überhaupt am Start eines wohl bedeutsamsten Amateurrennens der Welt mit 237 Kilometer und 5500 HM  stehen werde. Ich wollte mich durch dieses Ereignis in den Monaten zuvor aber keinesfalls stressen lassen. So manche Ausfahrt bei Sonnenaufgang um 5:00 morgens habe ich sehr genossen.

Dankbar bin ich zugleich, überhaupt einen Startplatz bekommen zu haben. 656 – meine Startnummer. Tausende andere sind nicht zum Zug gekommen. Ich verdanke dies einem ehemaligen Schüler von mir.

Mein Motto lautete: Ich probiere es. Ich nehme die Herausforderung an. Jetzt, wo meine Kinder groß sind und (fast) außer Haus, habe ich auch Zeit für so etwas. In meinem Kopf geistert folgende Gedanke: Die größte Herausforderung wird es sein, das Limit am Brenner zu schaffen, das heißt: Nach 120 Kilometer spätestens um 12:30 am Brenner zu sein. Das sind maximal 5 ½ Stunden Fahrzeit, also eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 23km/h – bei diesen ganzen Höhenmetern. Bei meinen üblichen Fahrten erreiche ich jedenfalls nie eine derartige Durchschnittsgeschwindigkeit. Meine Strategie muss daher lauten: Vollgas von Beginn an. Mich möglichst weit vorne einzureihen und dann möglichst schnell nach Ötz. Von dort so schnell wie möglich ins Kühtai, kein Stopp dort, sondern schnell hinunter und hoffentlich bekomme ich dann eine Gruppe, bei der ich mich nach Innsbruck und auf den Brenner hinten einreihen kann. Überhaupt wird die Orientierung an Mitfahrenden das Kriterium, ob ich es schaffen kann. Am Brenner jedenfalls wird Chris auf mich warten, mir Verpflegung geben und  hinunter zum Jaufen auch Windschatten, sodass ich auch die Labe am Brenner auslassen kann. Wenn ich also vor 12:30 am Brenner sein werde, kann ich erstmals aufatmen. Die beiden weiteren Pässe schrecken mich eigentlich gar nicht. Da werde ich schon meinen Rhythmus finden.

Mein Material ist geeignet für dieses Rennen, wenngleich das Rennrad bei weitem nicht das Highend-Material im Feld der Marathonisten sein wird, noch ohne Carbonlaufräder und auch so mancher andere Teil entspricht nicht dem, was die meisten an Ausrüstung mitbringen. Für mich spricht allerdings: Ich kenne die Berge, ich mag die Steigungen – wenngleich ich ab einer bestimmten Steigung, meist bei 8 Prozent, lieber in den Wiegetritt gehe – und habe ein Körpergewicht von 63, das ideal für die vielen Höhenmeter ist. Ich weiß, dass ich ausdauernd bin und auch nach sechs Stunden Belastung normalerweise keine Einbrüche habe, bei Sprintgeschichten merke ich natürlich meine 58 Jahre.

Ötztaler Radmarathon-Feeling in Sölden

Weil Ingrid die Idee hatte, für die Übernachtung bei unserer Freundin in Sölden anzuklopfen, was ganz spontan funktionierte, hatten wir eine angenehme Herberge und vor allem ein Auffrischen einer alten Freundschaft. Es wird also nichts aus meiner ursprünglichen Idee, mit Rad und Biwakzelt anzureisen, am Campingplatz zu übernachten. Das kräftige Gewitter und der Regen in der Nacht wären ja nicht ideal gewesen. Außerdem wäre mein Zelt eingepfercht zwischen den italienischen Wohnmobilen gestanden. So springe ich etwas über mein ökologisches Gewissen und wir reisen mit dem Auto an. Die motorisierte Verkehrsfülle im Ötztal erfüllt mich jedenfalls mit Unbehagen. Motorräder sind grantig hinter unserem gasbetriebenen Auto, weil sie nicht vorbeibrausen können. Ich habe Mitleid mit den an der Ötztalstraße Wohenenden, die dem Smog und Lärm jener ausgesetzt sind, die vor allem die Timmelsjochstraße für ihre Spaß- und Urlaubsfahrten benützen. Für Umfahrungsstraßen bietet das Ötztal ja keinen Platz.

Im Appartementhaus bei unserer Kollegin aus Studienzeiten haben wir es angenehm. Dort sind auch andere Gäste einquartiert, die den Radmarathon bestreiten. Einer ist extra aus Schweden angereist. Ökologisch mehr als fragwürdig. Er will es heuer wieder probieren, nachdem er letztes Jahr am Jaufen wegen Krämpfen aufgeben musste. Er habe nun noch mehr trainiert, seine SRM-Schaltung mit einem größeren Kranz hinten versehen. Dann sind noch Schweizer und Italiener – sie alle sitzen mit mir am nächsten Tag um 4:30 beim Frühstück.

Der Radmarathon ist für Sölden ein Riesenevent. Am Ende einer Saison und vor dem bald kommenden Weltcupauftakt haben es die Touristiker geschafft, ein Ereignis zu platzieren, das in der beginnenden Nachsaison für volle Hotels, Unterkünfte und Restaurants sorgt. Die Straßen sind voll. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind nicht nur an der Statur leicht als Marathonis zu erkennen, sondern auch an den grünen Startersäcken, die – wie auch ich – aus dem Veranstaltungszentrum geholt wurden. Rundherum ist eine Radexpo, werden Tausende Dinge rund um Radbekleidung etc. angeboten. Als Green Event könnte sich diese Veranstaltung jedenfalls nicht bewerben, selbst wenn Radfahren selbst wohl jene Sportart ist, die klimafreundlich wie kaum eine andere ist.

Sölden ist eine eigene Ortschaft, die ich bislang nie richtig wahrgenommen, sondern eher vermieden habe. Bloß bei Durchfahrten für Berg- oder Radunternehmungen war ich bislang in Sölden. Die Struktur der Wiesen und Felsen zeigt, dass dieses Dorf auf mehr als 1300 HM bereits in Almennähe ist. Obwohl die Einwohnerzahl mit dreieinhalb Tausend eher gering ist, ist Sölden flächenmäßig die größte Gemeinde Österreichs, allerdings ist die Kulturfläche des ehemaligen Bergbauerndorfes sehr klein. Die Ötztaler Ache durchfließt das Dorf als breiter rauschender Wildbach. Links und rechts der Straße sind Gasthäuser, Restaurants, Hotels, Appartementhäuser. Eine Zahnradbahn fährt im Taktrhythmus in einen höher gelegenen Teil Söldens, wo mehr Platz für Hotels ist. Hoch oben sieht man die Liftstützen der Gaislachkogelbahn auf 3000 Meter. Ingrid und ich entziehen uns dem Rummel und gehen in die Vorabendmesse. Der Unterschied ist enorm. Vor der Kirche die touristische Masse, drinnen in der Kirche Ruhe und Besinnlichkeit. Draußen Italiener, Deutsche und Menschen aus vielen anderen Nationen, drinnen Einheimische, die ganz traditionell die Messe feiern. Tradition ist in der barockisierten neugotischen Kirche tatsächlich noch spürbar. Links sitzen nur Frauen, rechts Männer, wo zwischendrin aber auch schon ein paar Frauen Platz gefunden haben. Der Pfarrer holt in seiner Predigt weit aus. Beim Sterberosenkranz beten die Männer mit dem Pfarrer vor, die Frauenseite betet nach. Jedenfalls holte ich mir noch göttlichen Segen für den morgigen Tag.

Der Renntag und meine Rennstrategie

Während des Rennens stelle ich gesellschaftskritische, ökologische und politische Gedanken völlig in den Hintergrund. Beim Start geht mir zwar nochmals im Kopf herum, wie politisch unsensibel es ist, das berühmte Diktum von Martin Luther „ich habe einen Traum“ als Leitspruch für den Ötztaler Radmarathon zu nehmen. Dieser Satz und seine Bedeutung für einen kompromisslosen Einsatz gegen Diskriminierungen und für Gerechtigkeit und Frieden ist wohl nicht geeignet, um als Motto für eine Sportveranstaltung zu dienen. Ich klammere aus, dass die Hauptsponsoren des Radmarathons jene Firmen sind, die ich aus ökologischen Gründen besonders kritisch sehe: Red Bull und BMW. Ich werde es ausblenden, dass ich durch einen Red Bull-Bogen fahren werde und ich werde alles dran setzen, dass der BMW-Schlusswagen weit weit hinter mir sein wird.

Zu meiner Rennstrategie zählt es, dass ich bereits um 5:15 am Startblock stehe. Da sind bereits einige hundert, eben all jene, die einen flinken Abgang ins Ötztal nehmen wollen. Hinter mir beginnt ab 5:30 die Schlange zu wachsen. Gut 4300 Starterinnen und Starter werden es bei diesem 37. Ötztaler Radmarathon sein. Noch eine gute Stunde bis zum Start. Ich merke, dass ich im Hinterrad doch zu wenig Bar im Reifen habe und ein begleitender Zuschauer leiht mir seine Pumpe. Es ist nicht kalt. Das Wetter ist wunderbar. In die Tirol-Werbeballons wird heiße Luft geblasen. Vor mir, hinter mir, neben mir: Vollcarbonräder, manche schon mit Scheibenbremsen. Ab 6:20 steht Ingrid an der Strecke und muntert mich noch auf.

Dann um 6:45 der Start. Ich drücke den Garmin-Radcomputer und merke, dass er eine falsche Einstellung hat und nichts anderes als die Geschwindigkeit anzeigt. Im Startgetümmel bleibt da keine Zeit, den Fehler herauszufinden. Also: Was Tritt- und Herzfrequenz und Kilometer und Höhenmeter betrifft, befinde ich mich im Blindflug und vertraue auf die Kenntnisse der Strecke und höre so in meinen Körper hinein. Mit manchmal über 70 km/h geht es das Ötztal hinaus. Irgendwo ist ein schlimmer Sturz und ein Mann windet sich am Boden, Rettungsleute um ihn herum. Manche habe schon jetzt technische Probleme mit ihren Rädern. Bei den Verkehrsinseln wachteln Feuerwehrleute mit Fahnen und warnen vor der Gefahr. 7:25 dann – weit schneller als erwartet – in Ötz. Der Wurm von Radfahrerinnen und Radfahrern windet sich die 18 Kilometer ins Kühtai hinauf. In 1:22 schaffe ich die 18 Kilometer, wobei ich meist gleichauf mit den Mitfahrenden bin. Genau zwei Stunden brauche ich bis Kühtai. Wie geplant lasse ich die Labe aus und sause durchs Kühtai hinaus, bleibe aber meist rechts und lasse mich links von den Rasern überholen. Von Kematen weg bis zum Brenner finde ich meist immer eine Gruppe, bei der ich mich gut anhängen kann. Bei diesem Tempo ist der Gegenwind noch spürbarer. Manchmal wird aus dem Pulk eine Einerreihe, wo jeder möglichst dicht am Hinterrad des Vordern pickt. Durchs Wipptal benütze ich meist das große Blatt vorne. Immer wieder über 30km/h, manchmal über 40,  geht es die Brennerstrecke entlang. Wegen einer ersten Pause Notpause verliere ich kurze einen Anschluss zu einer der Gruppen und kämpfe mich kurze Zeit selbst gegen den Wind, lasse mich aber dann gerne zurückfallen, um mich hinter eine andere Gruppe einzuordnen. In 4:12 bin ich am Brenner. 1:23 von Innsbruck weg die 37 Kilometer. Gut eine Stunde also vor der angepeilten Zeit. Dort wartet Chris auf mich, der mich von nun an begleiten wird. In seinem Windschatten geht es rasant nach Sterzing hinunter. Hinter mir profitiert eine große Gruppe von seinem schnellen Tempo. Bis Gasteig ist es dann nicht mehr weit. Weil nun ohnehin ganz klar ist, dass ich vom Besenwagen wohl nicht mehr verschluckt werde und die notwendigen Zeiten leicht einhalten kann, beschließe ich die 15 Kilometer auf den Jaufen hinauf meinen Rhythmus zu finden und auch immer wieder im Wiegetritt zu fahren, was meinem körperlichen Empfinden besser tut, auch wenn ich dabei sofort langsamer werde und die gefühlte Trittfrequenz zurück geht. Mir ist es egal, dass ich von ziemlich einigen eingeholt werde. In 6:12 bin ich am Jaufen auf 2000 HM. 1:30 von Gasteig weg. Mein rechtes Bein hat sich auf den letzten paar hundert Metern etwas verkrampft. Deswegen kurze Pause auf der Passhöhe. Ich muss mich fast zwingen zum Trinken und Essen und mein Magen will eigentlich nichts aufnehmen. Erholsam rasant wird die gefühlsmäßig endlose Abfahrt hinunter nach St. Leonhard. Der Straßenbelag ist stellenweise sehr schlecht. Manchmal rasen manche links mit Hochgeschwindigkeit vorbei, obwohl ich auch schon weit über meinem üblichen Abfahrtstempo fahre. Stürze zeigen, dass es nicht ungefährlich ist. Dennoch ist es ein tolles Flowerlebnis, so ganz ohne Autos und umgeben von lauter Rennfahrenden die Kurven hinunter zu sausen. Ich kenne diese Strecken ja nur so, dass immer irgendwo ein Auto oder Motorrad daher brausen könnte. Und dann beginnt die 28-Kilometer-Steigung hinauf aufs Timmelsjoch. Chris hat meinen Computer gerichtet. Ich orientiere mich nun an der Herzfrequenz und bewege mich meist im noch Wohlfühlbereich von 145-150. Eine Zeit von unter 10 Stunden, wie so manche, mit denen ich länger unterwegs war, peile ich ohnehin nicht an, und so kann ich mich in einem erträglichen Tempo und viel im für mich schonenderen Wiegetritt das Timmelsjoch hinaufwinden, bei Moos Käsebrot essen – die Gels haben nämlich schon alles verpickt –  und stellenweise sogar genießen, nehme auch Cola bei zwei Labestationen an, fahre am Straßenrand, um den Rennradfahrerwurm ganz unten bei Moos zu beobachten. Das Wetter hält, auch wenn kurzfristig ein paar Regentropfen eine Änderung andeuten ließen. Der Tunnel am Ende der Steigung, noch eine kurze Wegstrecke bis zur Passhöhe und dann gleich hinunter. Nach 9:33 am Timmelsjoch. Für die Strecke von 600 HM bei St. Leonhard bis auf 2500 brauchte ich 2:48.

Die Regenjacke bleibt wie den ganzen Tag unausgepackt. Nun hat sich das Feld ohnehin schon so weit auseinandergezogen, dass für eine schnelle Abfahrt mit optimalen Kurvenradien gut Platz ist. Einmal steht mitten auf der Strecke eine Schafherde. Ich muss an den Söldner Schafbauer und Freigeist Markus Wilhelm und seine DIETIWAG-Website denken und symbolisch ist es wohl, als würden ihm diese Schafe gehören, um zu einer ökologischen Entschleunigung dieser Welt beizutragen. Die Kilometersteigung hinauf zur Mautstation empfinde ich nicht schlimm. Mein Körper ist regeneriert. In Hochgurgl leichter Regen und ich bin bei den letzten Kurven etwas vorsichtiger. Chris gibt dann auf den letzten Kilometern hinaus nach Sölden optimalen Windschatten. 10:14 – das ist eine Zeit und ein Schnitt von über 22,  weit über dem, was ich mir vorgestellt hatte. Mein Körper fühlt sich obendrein gut an. Selbst Schmerzen im Kreuzbereich sind während der ganzen Runde nie aufgetreten.

Ein Dank gilt nun allen, die mich an diesem Tag unterstützt haben. Ingrid als ganz persönlicher Coach, Chris und seine Begleitung während der Fahrt, meine lieben Kinder, die mich gedanklich begleiteten, Helene, die uns liebevoll in ihr Haus in Sölden aufnahm,  das Team vom Bikepalast Tirol und ihrem professionellen Radservice und Thomas, der mir diesen Startplatz ermöglichte.

28.8.2017