Von der konkreten Sorge um die Kranken

ANMELDUNG CHIRURGIE leuchtet mir seit nun fast drei Stunden das neonbeleuchtete Schild entgegen. Wartezimmer der Ambulanz. Ich habe viel Zeit, dieses Gebäude und seine Geschichte zu erspüren. Einerseits darf man sich in diesem Krankenhaus gleich angenommen fühlen. Das verspricht das Logo der Barmherzigen Schwestern beim Eingang. CARITAS CHRISTI URGET NOS (die tätige Liebe Christi drängt uns) steht unter dem bunten Herz aus verschiedenfarbig kleinen Flächen. Die Querbalken eines etwas aufgelösten Kreuzes ruhen auf diesem Herz. Ein Logo mit einem großen Anspruch. Tatsächlich scheinen die Mitarbeiterinnen hier, Ärztinnen und Pflegepersonal, Großes zu leisten und die Patientinnen und Patienten dürften Trost in diesem Ambiente finden. Sie sind die bunten Flecken des liebenden Herzens. Ein Krankenhaus in der Obhut einer Ordensgemeinschaft sollten all jene erleben, die unter dem Banner einer religionskritischen Säkularität die Trennung von Staat und Religion erkämpfen wollen. Hier – in concreto – wird deutlich, was eine Zusammenarbeit von Religion-Kirche einerseits und Staat-Gesundheitssystem andererseits an Positivem bedeuten kann. Ich denke an die großartige Zammerin Katharina Lins, auf deren Engagement das heutige Krankenhaus und die Geschichte der Barmherzigen Schwestern letztlich zurückreicht. Da bin ich stolz auf eine vielfach geschmähte Kirche, die sich so vorbehaltlos seit hunderten von Jahren in dieser Gegend um die Kranken kümmerte. Andererseits werden auch die Grenzen spürbar. 30 Personen warten in dem künstlich erhellten Raum, der die Hälfte von einem Klassenzimmer hat. Unbestimmtes Warten. Warum kann den Patienten und Patientinnen, die nur zu einer Nachkontrolle kommen, kein genauerer Termin bekannt gegeben werden? Eine Frau spricht beim Anmeldeschalter von ihren Hämorrhoiden. Diskretionszone gibt es hier nicht. Das ältere Ehepaar in wörtlicher Tuchfühlung neben mir spricht von eitrigen Nägeln, die einer Behandlung bedürfen. Männer in weit fortgeschrittenem Alter unterhalten sich in breitestem Oberinntaler Dialekt mit Witzen über das Blutabnehmen. Immer wieder werden Patientinnen und Patienten auf Krankenbetten hinein- und hinausgeschoben. Man sitzt eng. Ich mache mich noch schmäler, als ich ohnehin bin. Ein anderer, etwas beleibterer Mann, entfernt kurzerhand den Stuhl neben ihm, um Platz zu finden. Die Luft ist verbraucht. Überraschenderweise nehmen alle das Warten sehr gelassen. „Unter zwei Stunden geht es nie …“, meint eine ältere Frau in den Raum hinein. Eine freundliche Klosterschwester legt liebevoll die neue Kirchenzeitung auf den Tisch in der Mitte, wo sonst noch ein unbenutzter Stapel einer Ärztezeitschrift liegt. Ein Kruzifix hängt zwischen den Eingangstüren. Ein Krankenhaus jedenfalls, das daran erinnert, dass zu den christlich-jüdischen Werken der Barmherzigkeit die Sorge um die Kranken zählt. In mir fragt es sich: Würde ein Klasse-Patient kurze Zeit nach einer OP mehr als zwei Stunden auf eine Nachkontrolle warten müssen?  Ist diese vormittägliche Erfahrung heute ein winziger Ausschnitt einer Wirklichkeit, die als „Zweiklassenmedizin“ bezeichnet wird? Die Lektion, die ich jedenfalls von dieser mir fremden Welt, in die ich als Begleitperson und nicht als Patient kam, lautet jedenfalls: Im Gesundheitswesen darf nicht bei den Patientinnen und Patienten gespart werden.  Hier – die Spitalsambulanzen betreffend – ist nicht ein Sparstift anzusetzen.

  1. September 2017