Dazwischen 1 – Leiter zwischen Erde und Himmel


Sanft bunte Matten bilden Leiter
zwischen Erde und Himmel
lichtdurchflutet von oben
helles Licht verwandelt in irdische Buntheit

jede Stufe der Leiter
eine Erfahrung von Glück
von Nähe und liebender Geborgenheit
jede Stufe lässt leben

horizontales Erleben wird vertikal
vertikales Ersehnen wird horizontal
leben und erleben in beiden Dimensionen
Erde und Himmel verbunden

suchend und tastend
im Zwischenraum von Himmel und Erde
dankbar für jede Stufe
hinauf und hinunter

Verbindungen werden geschaffen
Spirituelles und Physisches nicht mehr getrennt
Sehnsucht wird Materie
die Himmel begeh- und begreifbar

Seele hat Platz im Körper gefunden
Gegenwart wird gelebt als Erfahrung von Himmel UND Erde
Engel begleiten im Auf und im Ab
Biblischer Jakob fasst Mut und steht auf

klaus-heidegger, Biennale-Experience 2019

 

Intro: Im Dazwischensein von Verzweiflung und Hoffnung

Zwei Tage auf der Biennale in Venedig. Der Titel der wohl bekanntesten Ausstellung Europas über zeitgenössische Kunst lautet 2019 „May You Live in Interesting Times“. Dieses Motto ist in sich schon doppeldeutig. „Interessant“ hat mit Aufmerksamkeit, Neugier und Wachheit zu tun. Interesse hat aber auch mit einer ruhelos suchenden Ortlosigkeit zu tun. Antworten wurden noch nicht gefunden. Schonungslos provokant zeigen Künstlerinnen und Künstler in ihren Werken Destruktives, Zerstörendes, Verstörendes auf. Es ist ein Leben in der Zwischenzeit. Ist am Ende die Zerstörung dieser Welt, wofür vor allem Erderhitzung und Klimakatastrophe stehen? Es sind aber auch die Millionen „Lebenskrisen“, die sich zwischen Erde und Himmel, zwischen tiefen Erfahrungen von Freundschaften, Liebe, Geborgenheit und Verständnis einerseits und Erfahrungen von Trennung, Entfernung, Enttäuschung und unerfüllter Sehnsucht andererseits ereignen. Ich will nur ein wenig von jenen Kunstwerken, Installationen oder Videoprojektionen schreiben, die mich sowohl politisch wie existenziell am meisten berührten.

Dazwischen 1: Jakobs Leiter

Der irisch-amerikanische Künstler Sean Scully hat für seine Ausstellung bei der Biennale 2019 mit den kunstaffinen Benediktiner-Mönchen zusammen gearbeitet. Sie haben ihre Kirche San Giorgio Maggiore und Teile von ihrem Kloster als idealen Ort für seine Bilder und Installationen zur Verfügung gestellt. Unter der lichtdurchfluteten Kuppel der barocken Kirche ragt ein 10 Meter hohes Turmgebilde. Es könnte eine Jakobsleiter sein, die in der jüdisch-christlichen Ikonographie stets als Verbindung zwischen Erde und Himmel benützt wird, die allerdings laut biblischer Vorgabe als Leiter gesehen wird, die vom Himmel auf die Erde kommt und auf der Engel hinauf- und hinunter klettern. Der Turm von Scully wird gebildet aus horizontal geschichteten bunten Quadern. Sie sind mit Filz überzogen und wirken wie sanft-überzogene Matten. Der damit gebildete Turm lässt sich auch begehen. Die bunten Quader inmitten einer Kirche, die aus hellem Marmor und Stein erbaut ist, in der die barocken Statuen und das ganze Interior so hart und farblos wirken, erscheinen noch einmal lebendiger, weicher und strahlender. Die Riesen-Skulptur ist auch begehbar. Innen wird der Blick nach oben gezogen. Hinauf dorthin, wo das Licht aus der Kuppel kommt. Die ganze Ausstellung von Scully steht unter dem Titel „Human“. Menschliche Wirklichkeit, so könnte man es einfach deuten, ist stets eine Existenz, die sich im Zwischenraum von Himmel und Erde abspielt. Insofern passt es auch zum Thema der gesamten Biennale „May You Live in Interesting Times“. Interesting – inter-esse – dazwischen sein zwischen Himmel und Erde, wobei es nicht verstanden werden darf als Existenz, die weder das eine noch das andere ist, sondern in der es stehts darum geht, den Himmel auf Erden zu erfahren oder eben die Erde als himmlischen Wirklichkeitsraum in all seinen Begrenztheiten. Im theologischen Fachvokabular wird von der eschatologischen Dimension des Seins gesprochen. Jesus sprach vom Reich Gottes, das angekommen ist überall dort, wo seine Botschaft von Barmherzigkeit, Zärtlichkeit, Zuwendung und Annahme gelebt werden.

Klaus Heidegger, 3.9.2019