Corona und die Frage nach dem „lieben Gott“

Wo ist Gott im Leid und in Bedrohung zu finden?

Europa im März 2020. Ein Virus hat einige Länder Europas mehr als anderes zuvor verändert. „Schau auf dich, schau auf mich …“ wird hierzulande wohl zum Spruch des Jahres. Es ist die säkulare Corona-Variante jenes Grundgebotes, das wir bereits im Buch Leviticus der Bibel finden und das von Jesus in seinem Reden und Tun bekräftigt worden ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“

Alle, wirklich alle sind hierzulande in ihrem Tun radikal abgebremst worden. Wir können sehr viel Solidarität entdecken. Manche sprechen schon von einer „Solidaritätswelle“, die stärker ist als die Angst und das Erschrecken. In den Stadtwohnungen isolierte Menschen musizieren von den Balkonen. Nachbarschaftshilfe entsprechend der Vorsichtsmaßnahmen werden angeboten. Es herrscht keine Panik, sondern Zuversicht, weil es das Gefühl gibt, dass die Gesellschaft zusammenhält.

In einer Krise – sei es im privaten wie in einer Gesellschaft – taucht die Frage nach Gott besonders auf. „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ „Wo ist Gott angesichts von Unglück, Bedrohung und Leid?“

Die Theodizeefrage

„Theodizee“ bedeutet die Rechtfertigung Gottes angesichts der Existenz von Übel und Leid. Es ist eine Frage, die sich vor allem junge Menschen immer wieder stellen und die im Religionsunterricht ausführlich zur Sprache kommt. In einer Krise wird gefragt: Kann es überhaupt einen Gott geben, wenn es so viel Leid und Übel gibt?

Die Rechtfertigung Gottes ist deswegen notwendig, weil drei traditionelle religiöse Behauptungen miteinander logisch unvereinbar zu sein scheinen: 1.: Gott ist allmächtig. 2.: Gott ist gütig. 3.: Es gibt Leid. Ein allmächtiger Gott müsste doch das Leid seiner Geschöpfe verhindern können und ein gütiger Gott würde dies auch. Gäbe es somit einen gütigen und allmächtigen Gott, dann dürfte es kein Leid auf dieser Welt geben. Da es aber das Leid gibt, gibt es offensichtlich einen solchen Gott nicht, lautet eine Schlussfolgerung.

Gott gibt es nicht

Auch im Kontext Schule höre ich immer wieder das atheistische Argument: Es kann keinen Gott geben, weil es so viel Leid gibt. Georg Büchner bezeichnete daher das ungelöste Theodizee-Problem als „Fels des Atheismus“. Wer als Atheistin oder Atheist davon ausgeht, dass es Gott nicht gebe, für die stellt sich auch nicht mehr das Problem der Theodizee, sondern nur mehr das Problem des Leids bzw. des Umgangs damit.

Gott ist nicht nur gütig, sondern auch strafend

Die Aufgabe der Prämisse von der Güte Gottes widerspräche genauso dem biblischen Verständnis Gottes wie auch dem Gottesverständnis im Islam, wo Allah immer wieder mit Barmherzigkeit identifiziert wird. Gott kann also kein Gott sein, der mit Covid-19 straft oder rächt. Gott ist ganz barmherzig, kein strafend-rächender Gott!

Gott ist nicht allmächtig

Ein Denken, dass Gott eben nicht allmächtig sei, gab es bereits in philosophischen Strömungen zur Zeit Jesu, vor allem im Manichäismus. Diese philosophische Denkschule behauptete, dass ein guter Gott im kosmischen Kampf gegen einen bösen Antipoden stehe. Der gute Gott verfüge aber nicht über die Macht, die Kräfte des Bösen einfach zu eliminieren, auch wenn es eine Hoffnung auf einen endgültigen Sieg des Guten gibt. Der Theologe Marcion aus dem 2. Jahrhundert behauptete, es gebe einen Antagonismus zwischen dem bösen Schöpfergott und dem guten Erlösergott. Ähnliche dualistische Vorstellungen tauchten immer auch mit dem christlichen Teufelsgauben auf.

Eine andere Richtung, die die Allmacht Gottes begrenzt, ist die Sicht von Gott als Demiurgen, der die Welt zwar geschaffen hat, sie aber dann in die Eigenständigkeit entlässt. Gott habe keinerlei Möglichkeit mehr, zwingend auf die Materie einzuwirken, doch unter Gottes inspirierender Einwirkung vermöge sie sich zu organisieren und dabei allmählich immer höhere und komplexere Existenzformen anzunehmen.

Leid als Folge des freien Willens

Die sogenannte „Free-Will-Defence“-Argumentation lautet wie folgt: Wenn Gott freie Wesen erschafft, dann muss er in Kauf nehmen, dass diese sich freiwillig zu sittlich bösen Handlungen entscheiden. Wollte Gott eine Entscheidung zum Bösen jedes Mal verhindern, was er aufgrund seiner Allmacht könnte, dann wäre die Freiheit des Menschen erheblich eingeschränkt, ja als sittlich relevante Freiheit aufgehoben.

Gott ist keine theoretisch abstrakte Größe, sondern subjektiv erfahrbar

Die Theodizeefrage führt letztlich immer zur Frage, wer und wie Gott ist. Gott ist zunächst keine Theorie, ist zunächst auch keine objektivierbare Größe und kein abstraktes Konstrukt. Gott ist zuallererst eine unmittelbare subjektive Erfahrung. Ich erfahre Gott: solche Erfahrung bedingt meinen Glauben. Gott begegnet mir, Gott ergreift mich, Gott stellt sich mir: das ist ein subjektives Erleben. Rein spekulativ wird mir Gott nicht begegnen.

Ich bin mit dieser Erfahrung jedoch nicht allein. Viele Menschen machen diese gleiche Erfahrung. Gotteserfahrung wird objektivierbar. Das ganze Volk Israel machte als Volk die Erfahrung eines Gottes, der befreiend in die Geschichte einwirkt. Wieder ist es keine Theorie. Die Erfahrung der Unterdrückung im „Sklavenhaus Ägyptens“ war real – genau so wie die Erfahrung des Auszugs. Gott wird als ein Gott, der erfahrbar ist, zugleich beweisbar: Die Wirkungen Gottes sind greifbar, fassbar, belegbar. Ich kann Gott „ertasten“, wie es der Apostel Paulus in seiner Areopagrede formuliert hatte.

Für uns Christinnen und Christen ist der erste Schlüssel zur Lösung der Theodizeefrage der Blick auf die Jesusgeschichte: In Jesus und seiner Bewegung wird ein Gott erfahrbar, der das Leid der Menschen sieht, annimmt und zur Überwindung beiträgt. Jesus wird als Heiland erfahren, der sich gerade jenen Menschen zuwendet, die in Not sind: den Kranken, den Bettlern oder den Aussätzigen.

Im Evangelium Lukas 13,1-9 steht, wie Jesus auf die Erzählungen der „Leute“ reagiert, die von zwei Ereignissen zutiefst betroffen sind. Erstens gab es ein Massaker an Galiläern, das vom Despoten Pilatus angeordnet worden war. Einmal mehr wird in dieser historischen Angabe die ganze Brutalität des römischen Statthalters deutlich. Das Blut der Galiläer soll sich sogar mit dem Opferblut der Tiere vermischt haben. Zweitens stürzte in der Ortschaft Schiloach ein Turm ein und 18 Menschen wurden erschlagen. Können diese Ereignisse als Strafe Gottes gesehen werden? Jesus weist solche Interpretationen klar zurück. Leid ist weder Wille Gottes und schon gar nicht eine göttliche Strafsanktion.

Die biblischen Erfahrungen zeigen, dass Gott Menschen befähigt, gegen das Leid anzukämpfen: Jahwe gab den Hebammen Schiphra und Pua, Mirjam, Aaron und Mose die Kraft, das versklavte Volk in die Befreiung zu führen. In Jesus wird wieder ein Gott erfahrbar, von dem es bereits zu Beginn des Buches Exodus heißt: „Ich habe das Schreien meines Volkes gehört.“

Das jüdische Volk erlitt in der Shoah das schlimmste Schicksal in der ganzen Menschheitsgeschichte. Die Frage, wo Gott in Auschwitz war, hat Elie Wiesel mit einer Geschichte auf den Punkt gebracht, als ein KZ-Aufseher einen Knaben an den Galgen brachte, der dann langsam qualvoll erstickte. Am Galgen, so Elie Wiesel, sei Gott gewesen.

Gott will das Leid nicht

Der Schweizer Dichter und Theologe Kurt Marti brachte mit wenigen Worten zum Ausdruck, wie heute die Theodizeefrage gelöst werden muss. Er dichtete:

„dem Herrn unserem Gott hat es ganz und gar nicht gefallen, dass gustav e. lips durch einen Verkehrsunfall starb/
erstens war er zu jung, zweitens seiner Frau ein zärtlicher Mann, drittens zwei Kindern ein lustiger Vater, viertens den Freunden ein guter Freund, fünftens erfüllt von vielen Ideen/
dem Herrn unserem Gott hat es ganz und gar nicht gefallen, dass einige von euch dachten, es habe ihm solches gefallen.“

Dieses Narrativ wird in der Bibel zentral in der Gestalt des Ijob entfaltet. Von ihm können wir lernen, dass Gott auch des Menschen Protest gegen das Leid respektiert. Zugleich manifestiert sich Gott als sein Schöpfer , der ihn vom Leid erlöst.

Das Handeln Gottes gerade in den Erfahrungen des Leids geht immer durch uns Menschen. Gott ist allmächtig in der Art und Weise, wie Menschen a) sich aktiv gegen das Leid einsetzen, b) einander stützen und stärken, wo Menschen Leid erfahren. Gott erweist sich letztlich nicht als launisch-apathischer Willkürgott, sondern als ein Gott der rettenden Liebe, die sich im Tun und Handeln der Menschen manifestiert.

Schlussfolgerungen in Corona-Zeiten

Gott ist keine allmächtige Macht, die weder SARS-C0V-2 geschaffen hat, noch damit Menschen bestraft oder dieses Virus mirakulös stoppen könnte, wenn „ER“ – im Sinne eines patrirarchalen Männergottes –  möchte. Wenn Kardinal Schönborn zum Thema „Corona“ meinte, dass „Gott alles lenkt“, so versteht auch er dies nicht im Sinne eines allmächtigen Lenkergottes. So präzisierte er das Zitat von Klemens Maria Hofbauer: „Gott linkt, aber nicht ohne uns.“ (Zit. in: Kronenzeitung, 22.3.2020) Gott ist allerdings eine Wirkkraft, die Menschen bekräftigt, in einer Krise zusammen zu stehen. Gott wird dort spürbar, wo Menschen aufpassen, andere nicht zu infizieren, selbst wenn sie keine Angst davor haben, durch das Coronavirus zu erkranken. Gott erweist seine Kraft in den rettenden und heilenden Händen von Ärztinnen und Ärzten und von Pflegekräften. Gott wird spürbar in dem Dienst der Handelsangestellten, die in den Lebensmittelgeschäften die Regale wieder voll räumen. Von den Balkonen wird eine religiöse Melodie hörbar. In dieser Zeit lässt sich neu entdecken, wer und vor allem wie Gott wirklich ist. Gott wird so begreifbar in den vielen helfenden Händen und in jedem vernünftigen Handeln von uns Menschen, das nicht von Egoismus, sondern von Solidarität geprägt ist.

In diesem Sinne ist auch das Gebet zu verstehen, das uns zum einen öffnet für die Nöte von anderen Menschen, das uns zugleich sensibel macht, für ein achtsames Verhalten mit Blick auf die Schwachen, das uns weiteres stärkt, Ruhe und einen kühlen Kopf zu bewahren.

Klaus Heidegger, 16.3.2020

 

Kommentare

  1. Danke für diesen tollen Beitrag und das Engagement für die Schülerinnen und Schüler!
    Liebe Grüße und Gesundheit wünscht

    Mag. Gabrijela Szivacz

  2. Wenn nicht der Mensch für eine Übel verantwortlich ist, wer ist es dann? Gibts was Drittes? Hab grad für mich über Corona nachgedacht: Sacra Corona – tremendum, aber auch fascinosum – ein Virus bringt die ganze Menschheit in durcheinander, wie kein Staat und kein Mächtiger auf der Erde trotz aller Waffen es zustande brächte. Innerhalb weniger Wochen und Monate. Ein Virus. Nicht einmal ein richtiges Lebewesen, nach allgemein wissenschaftlicher Auffassung. Nur DNA und RNA, die sich durch einen quasi-automatischen Mechanismus bis in einen Zellkern einstülpt, diesen für die eigene Reduplikation umprogrammiert und damit im schlimmsten Fall die Weltherrschaft antreten kann. Durch trial and error sind jene Viren angeblich in der Ausbreitung am erfolgreichsten, welche ihren Wirt lange oder gar nicht umbringen, denn dann kann der Wirt den Virus auf ganz viele weitere Wirtslebewesen verbreiten. Kollateralschäden mit einkalkuliert. Ob sie wirklich keine Lebewesen sind, hängt von der Definition von Leben ab, in der verbreiteten Definition fehlt ihnen die Fähigkeit zum eigenen Stoffwechsel. Jedenfalls könnten sie relativ schnell mutieren und sich anpassen. Computerviren sind ihnen insofern ganz ähnlich, als sie Informationsprogramme sind, die sich die Resourcen anderer Systeme zunutze machen, um sich selbst ungeheuerlich zu vervielfältigen, so dass sie globale Systeme ins Wanken bringen können.
    Digitale Viren gefährden die Informations- und Kommunikationssysteme der Menschheit, „analoge“ Viren den physischen Organismus unzähliger menschlicher Individuen – und in so einem Fall – dann auch die Wirtschafts- und Kommunikationssysteme der Menschheit.
    Viral ist aber nicht immer schlecht. Bekanntlich kann auch gutes viral durchs Netz verbreitet werden – und ging nicht auch früher einmal quasi die „Gute Nachricht“ viral?
    „Analoge“ Viren (wobei ihr Info-Code ist ja auch mathematisch digital – nicht binär, sondern „quadronär“ sozusagen), analoge Viren sind überwiegend schlecht für den Wirt (manch „gute“ sucht man gerade zur Krebsbekämpfung zu finden). Aber viellfach leben sie in relativ angepasster fast Symbiose mit der Wirtspopulation. Also meist sind sie schon lästige unnütze Schmarotzer, aber wissen wir wirklich, ob sie nicht auch zu was gut sind, wenn sie Tierpopulationen von den ohnehin schon Kranken und Schwachen befreien?
    So etwas sollten wir natürlich bei einer menschlichen Population nicht denken, aber … wenn wir uns bemühen, die Corona-Krise als Herausforderung zu sehen: lassen sich da nicht auch positive Seiten an diesem Virus für die Menschheit finden? Greta Thunberg hat Unglaubliches zustande gebracht. Ihre Botschaft ging auch viral um die ganze Welt. Doch Corona hat in ein paar Wochen ungleich mehr unsere Weltwirtschaft und unser Leben verändert, als Greta es in 2 Jahren geschaft hat. Auch ist Corona so etwas wie ein gemeinsamer Feind, der in vielem die Menschheit zusammenrücken lässt, natürlich nicht ausschliesslich: es gibt auch noch Schuldzuschiebungen („chinesischer Virus,…) und egoistische Ellenbogenreaktionen, für die Flüchtlinge im Elend scheint jetzt gar keine Energie mehr übrig zu sein; aber viel Solidarität hat dieser Virus offensichtlich schon hervorgerufen. Vereinter Kampf gegen das Tremendum et Fascinosum. In der Religionstheorie wird damit das archaische Sacrum charakterisiert.
    Und wo ist Gott in dem Geschehen? Computerviren werden von Menschen erdacht und losgelassen, wer aber hat sich die analogen Viren erdacht, wenn nicht der allmächtige Weltenschöpfer?
    Und die unzähligen grausamen Bakterien und erst den Krebs und manch anderes Übel, das man sicher nicht der menschlichen Sünde zurechnen kann?
    Ich als Theologe, der sich darüber schon vielmals den Kopf zerbrochen hat, muss kapitulierend schlicht sagen: Ich weiss es nicht, es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich die Welt und das Menschsein von einem Sinn und von einem über allem stehenden Geist getragen glauben will, von einem Geist der unvorstellbare Liebe und Solidarität und Gerechtigkeit im letzten ist, dass ich folglich denken muss: irgendwann werden sich hoffentlich die Schleier lüften und wir werden das alles als Herausforderung mit dem Ziel der höheren Herrlichkeit Gottes und der Liebe und Glückseligkeit erkennen können. Manche scheinen das gerade auch jetzt in der aufopfernden Arbeit für die Kranken in den Spitälern und medizinischen Lagern und anderen Hilfsorganisationen zu erleben. Und Corona – die Krone – irgendwie empfinde ich sie nicht nur als Tremendum, sondern auch als Respekt einflössendes Faszinosum, dieses wundersame Halb-Lebewesen, sacra Corona.

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