Über Recht und Unrecht und Notwendigkeiten, Rechte nicht kalt werden zu lassen

Politischer Kontext

Den Regierenden gelang es selbst im dritten Lockdown nicht, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Inzidenzzahlen waren Ende Jänner 2021 doppelt so hoch, als sie für ein Aufatmen notwendig gewesen wären. In der Bevölkerung machte sich mehr und mehr Frustration breit. Die Unzufriedenheiten über Schulen im Lockdown, über geschlossene Gasthäuser und Kultureinrichtungen, über geschlossene Grenzen und Ausgangssperren wuchsen so wie die Haare vieler Menschen, die nicht mehr zum Friseur gehen konnten. Hinzu kamen die Meldungen über Corona-Mutationen, die weitaus gefährlicher sein sollen. Die Zahl der Menschen, die arbeitslos oder in Kurzarbeit waren, hatte die Millionengrenze erreicht.

In diesem Kontext demonstrierte das Innenministerium mit dem Polizeiapparat eine besondere Härte in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Ende Jänner wurden vier Kinder  und deren Familienangehörigen nach Georgien bzw. nach Armenien abgeschoben. Die zwölfjährige Tina und ihre kleine Schwester, auch Sona aus Armenien und ihr 16-jähriger Bruder, der in Wien eine Fachausbildung absolvierte. Die Abschiebung von Kindern und Jugendlichen hat einen großen Teil der Zivilgesellschaft aber auch viele politisch Engagierten aufgeweckt. So nicht, formulierte es auch der Bundespräsident. Dessen Aussage „ICH KANN UND WILL NICHT GLAUBEN, DASS WIR IN EINEM LAND LEBEN, WO DIES WIRKLICH NOTWENDIG IST …“ hing ein paar Tage später  an vielen Klostermauern Österreichs. Die höchsten Vertreter der Kirchen in Österreich, Bischof Michael Chaloupka von der Evangelischen Kirche, Erzbischof Franz Lackner als Vorsitzender der Katholischen Bischofskonferenz sowie Vertreter der Altkatholischen Kirche verurteilten entschieden die Abschiebungen. Es ist so, als wäre die Bevölkerung aufwachen.

In diesem Kontext stand auch das inhumane Beharren von Bundeskanzler Kurz, keine Flüchtlinge aus den Lagern auf Lesbos aufzunehmen, wo in diesen Wintermonaten besonders dramatische Zustände herrschten. Katastrophale Zustände waren auch in den Lagern in Nordbosnien. Tausende Flüchtlinge lebten dort ohne feste Unterkünfte und mit wenig Nahrung. Als Zeichen des Widerspruchs wählten in einigen Landeshauptstädten Bürgerinnen und Bürger eine Widerspruchsform, die ebenfalls Wellen schlug. Sie biwakierten an den Wochenenden an öffentlichen Zelten, um sich so mit den Flüchtlingen zu solidarisieren, die unfreiwillig in den Lagern in Lesbos oder Bosnien ihren Winter verbringen mussten.

Dieser politische Kontext war immer auch geprägt von einem Nachdenken über das Recht. Was ist Recht, was ist Unrecht? Leben wir in einem Rechtsstaat, in dem Gesetze und deren Exekutierung nicht mehr den grundlegenden Rechten entsprechen?

Recht auf menschenwürdige Behandlung

Die Geschichte von der Abschiebung der zwölfjährigen Tina, ihrer jüngeren Schwester sowie ihrer Mutter nach Georgien, weckte auf, vom Bundespräsidenten bis zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, von Bischöfen bis hin zu Ordensschwestern. Tina wurde hier geboren und ist mit einer zweijährigen Unterbrechung in Österreich aufgewachsen.

Die erfolgte Arretierung und Abschiebung von der Schülerin aus dem Wiener Gymnasium Stubenbastei erfolgte unter besonders „martialischen“ (© Bischof Michael Chalupka) Umständen mitten in der Nacht und mit einem Großaufgebot von Polizei und Hundestaffeln. War dies notwendig? Wenn schon eine Abschiebung, warum unter diesen Umständen? Bei einer Demonstration in Innsbruck gegen die Asylpolitik am 30. Jänner muss ebenfalls gefragt werden: War diese Härte, war Einkesselung von Demonstrierenden, war Pfefferspray-Einsatz und waren die Inhaftierungen wirklich notwendig?

Recht auf Asyl

Wie das Asylrecht auszuführen ist, das bestimmen die Gesetze. Diese Gesetze wurden in den vergangenen Jahren zunehmend verschärft. Aufgrund dieser Gesetze wurde der Asylantrag von Tina und ihrer Mutter mehrmals abgelehnt. Es stimmt, dass das Höchstgericht daher die Berechtigung zur Ausweisung gegeben hatte. Allerdings bedeutet dieses Urteil nicht eine Verpflichtung zur Abweisung. Das Innenministerium hat immer noch auf der Basis der Verhältnismäßigkeit und mit Blick auf das Kindeswohl (© Robert Menasse) eine Entscheidungsfreiheit. Mit anderen Worten: Es stimmt nicht, wenn Innenminister Nehammer meinte, er hätte die Rechtsstaatlichkeit umsetzen müssen. Höchstgerichte prüfen zudem nur, ob das Verfahren rechtsgemäß gelaufen ist, nicht aber die Gründe, die für ein humanitäres Bleiberecht stehen. Wenn Gesetze den Rechten widersprechen, so sind sie zu ändern. Dafür bräuchte es entsprechende Mehrheiten im Parlament.

Im Falle der hier zur Diskussion stehenden Abschiebungen berief sich der Innenminister auf gültiges Recht. Die Familien hatten negative Asylbescheide und ihnen war kein subsidiärer Schutz geboten worden. Daher konnte eine sogenannte „Rückkehrentscheidung“ – so der offizielle Terminus für Abschiebung – erfolgen. So sieht es auch das EU-Recht vor. Dieses allerdings gibt den Mitgliedsstaaten jederzeit die Möglichkeit, wegen Vorliegens eines Härtefalles oder aus humanitären oder sonstigen Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. (© Maria Berger) Eine Rückkehrentscheidung kann dann auch rechtmäßig zurückgenommen werden.

Humanitäres Bleiberecht

Das Bleiberecht ist in der momentanen österreichischen Rechtslage ein Sonderstatus im Asylrecht. Bis 2014 war die Bezirksverwaltung in der mittelbaren Bundesverwaltung für den Vollzug und für die Entscheidung über das humanitäre Bleiberecht zuständig. Im Zuge einer Gesetzesänderung wurde das „Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl“ damit betraut.

Das Bleiberecht erlaubt besonders schutzbedürftigen Menschen oder besonders gut integrierten Menschen trotz negativem Asylbescheid einen legalen Aufenthalt in Österreich für eine bestimmte Zeit, wenn besondere Gründe dafür vorliegen. Ob ein Bleiberecht vergeben wird, hängt wesentlich auch vom Faktor der Integration ab. Im Falle von Tina war es mehr als eindeutig. Nirgendwo besser war Tina integriert.

Die Evangelische Kirche fordert wie viele NGOs ein Bleiberecht für Menschen, die länger als fünf Jahre in Österreich sind. Die wichtigste Forderung lautet in diesem Zusammenhang, die auch ÖVP-Landeshauptleute unterstützen: Nicht das Innenministerium soll über ein solches Bleiberecht entscheiden, sondern Härtefallkommissionen, die in den Bundesländern und Kommunen angesiedelt sein sollten. Die Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser verweist auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Das Bleiberecht, so ihre Argumentation, sei unabhängig vom Asylrecht zu sehen und gehöre ins Aufenthaltsrecht.

Die Erteilung eines Bleiberechtes aus humanitären Gründen macht jedenfalls eine Rückkehrentscheidung gegenstandslos.

Menschenrechtskonvention

Eine Rückkehrentscheidung muss jedenfalls der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechen, ansonsten ist sie aufzuheben. Diese Konvention sieht vor, dass die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit des behördlichen Eingriffs in das Privat- und Familienleben zu prüfen sei, so die ehemalige Richterin am EuGH und ehemalige Bundesministerin für Justiz, Maria Berger. Deswegen müssten die Dauer des Aufenthalts, der Grad der Integration und die Bindungen zum Herkunftsstaat geprüft werden. Ein vorhandener Abschiebebescheid müsste zeitnah zum letzten Urteil erfolgen, weil sich die Bedingungen für einen Aufenthalt geändert haben könnten. Im Falle von Tina waren seit dem letzten höchstgerichtlichen Urteil bis zur Abschiebung 17 Monate vergangen.

Kinderrechte und Kindeswohl

Der Präsident von Caritas Österreich, Michael Landau, formulierte eindeutig. Einerseits müsse die gesetzliche Lage anerkannt werden, zugleich aber sollte sich die Ausführung solcher Gesetze immer am Kindeswohl und den Kinderrechten orientieren. Eine Abschiebung von einem Kind, das hier geboren wurde, bestens integriert ist, das das Land gar nicht wirklich kennt, in das es abgeschoben wird, ein solches Kind verdient jedenfalls einen besonderen Schutz.

Das Kindeswohl ist in Art 24 Abs. 2 der EU-Grundrechtscharta festgeschrieben. Demnach muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein, also wichtiger al andere Erwägungen.

Der Anwalt der abgeschobenen Familie hatte bereits im Mai 2020 einen Antrag auf ein humanitäres Bleiberecht gestellt, der jedoch nie von den Behörden geprüft worden war. (Verfassungsjurist Heinz Mayer). Eine solche Prüfung hätte laut Gesetz „zeitnah“ erfolgen müssen. In solchen Verfahren hätten im Sinne von Artikel 8 der Menschenrechtskonvention bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens nach acht Kriterien geprüft werden sollen wie: Grad der Integration, Bindungen zum Heimatstaat oder die strafgerichtliche Unbescholtenheit. Der Verfassungsjurist Heinz Mayer meint weiters, dass über allem die Verfassungsbestimmung bestehe, dass nach Artikel 1 des BVG Kinderrecht das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sei. Einfachgesetzliche Vorschriften seien laut Mayer daher „im Lichte dieses Artikels auszulegen und anzuwenden“.

Die Katholische Jungschar Österreichs verweist auf die auch vom Staat Österreich unterzeichnete „UN-Kinderrechtskonvention“. In der UN-Kinderrechtskonvention steht dazu geschrieben: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen geschützt wird“ (Artikel 2, UN-Kinderrechtskonvention). Die ehemalige Justizministerin und Richterin Maria Berger (SPÖ) meinte dazu, auch wenn es schon eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung gibt, die vom BVwG bestätigt wurde, habe die Fremdenpolizei vor der Durchsetzung einer Abschiebung selbst darauf zu achten, dass sie das Kindeswohl vorrangig wahrt und nicht gefährdet. Das umso mehr, wenn die letzte Gerichtsentscheidung fast eineinhalb Jahre zurückliegt. Der Präsident von Aktion Leben Österreich argumentierte auch damit, dass das Kindeswohl Teil der österreichischen Bundesverfassung sei.

Recht des Blutes oder Gewährung von Staatsbürgerschaften

In Österreich gilt das „ius sanguinis“. Das bedeutet, dass in Österreich geborene Kinder nicht automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen, wie dies etwa in den USA, Kanada, Mexiko oder Brasilien möglich ist. Tina, die zwölfjährige Schülerin aus einem Wiener Gymnasium, die mir ihrer Mutter nach Georgien abgeschoben wurde, hätte daher in diesen Ländern keine Schwierigkeiten bekommen. Die Diakonie fordert  eine Änderung in Bezug auf die Staatsbürgerschaft. Moser: „Es kann nicht sein, dass Kinder, die hier ihre sozialen Beziehungen haben, die hier Kindergarten und Schule besuchen und kein anderes Bildungssystem kennen als das österreichische, für den Staat als Fremde gelten.“ Für eine Änderung mit Blick auf die Staatsbürgerschaft setzt sich SOS Mitmensch (abrufbar unter: https://www.sosmitmensch.at/hiergeboren) ein: Gefordert wird der automatische Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft für Kinder, wenn sie hier geboren sind und zumindest ein Elternteil bereits sechs Jahre hier lebt. Gefordert wird weiters die Einbürgerung aller jungen Menschen, die als Kinder nach Österreich gekommen sind, nach sechs Jahren.

Bewusste Inszenierung

Der evangelische Bischof Michael Chalupka sieht in der erfolgten Abschiebung eine „Inszenierung“. Mit der Härte gegen Kinder werde Politik gemacht. Die Politiker „wissen die Härte in Wählerstimmen aufgewogen“, meinte Chaloupka. Der Bundeskanzler, so politische Beobachter, handle strategisch. Sein rechtspopulistisches Kalkül laute, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ohnehin gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sei.

In mir lebt noch die Hoffnung, dass sich die türkisen Spindoktoren doch täuschen, dass die Mehrheit der Bevölkerung doch anders denkt und fühlt, dass mit Unmenschlichkeit sich auf Dauer keine Politik machen lässt.

Wie geht es weiter? Abschiebungen oder Gewährung von Bleiberechten?

Nachdem die Abschiebung der georgischen und armenischen Mädchen erfolgte, sind bereits weitere Abschiebungen geplant. Eine Frau aus Georgien mit drei Kindern in einer Gemeinde in Niederösterreich erhielt einen Abschiebebescheid. Ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Auch diese Familie ist bestens in die Gemeinde integriert. Seit fünf Jahren leben sie bereits in Österreich. Die Forderung der vielen Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde, des ÖVP-Bürgermeisters wie der Kirche lautet auch in diesem Fall, der Familie ein Bleiberecht zuzugestehen und damit einen legalen Aufenthaltsstatus zu geben. Man verweist auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Im Ennstal wiederum lebt eine 5-köpfige tschetschenische Familie, deren Vater in seinem Heimatland politischer Verfolgung ausgesetzt war. (© www.freequenns.at) Die drei Kinder im Alter von 4, 3 und 1/12 Jahren sind im Ennstal geboren, die beiden älteren sind in ärztlicher Behandlung bzw. der älteste Bub ist Autist. Jederzeit kann nun der Abschiebebescheid vom September 2020 kommen. Hier ließen sich leider noch viele andere Beispiele anführen über geplante Abschiebungen von Menschen, die bestens integriert sind, von Familien, die auseinander gerissen würden oder von Männern, die in ihrem Heimatland inhaftiert würden.

Die Forderung heute lautet: Keine weiteren Abschiebungen von Kindern und Jugendlichen! Ausbau des humanitären Bleiberechts! Rückholung der abgeschobenen Kinder und Jugendlichen und deren Eltern. Eine Rückkehr wäre dann eine „rechtmäßige Heimkehr“ ( © Christian Konrad) Dazu braucht es die Installierung von Härtefallkommissionen, wie sie beispielsweise von der Katholischen Aktion gefordert werden.

Klaus Heidegger, 8. Februar 2021

 

(Quellen: Berger Maria (2021), Abschiebungen und Kindeswohl, in: Falter 5/21, 8; Weißensteiner Nina (2021), in: DER STANDARD, 7.2.2021; Christian Konrad, DIE PRESSE 2.2.2021;  https://www.freequenns.at/2021/01/31/drohende-abschiebung-einer-tschetschenischen-familie-in-admont/?fbclid=IwAR1w0jB8a0vdqfwMtJxps4WfeyjPX9HkMd5yQ2ziGSRxEr4EgBa0bLpAYx8; Kathpress-Tagesdienst 2.2.2021;