Das Sterben am Karfreitag

Der Blick auf das Leiden

Am heutigen Tag gibt es kein Läuten von Glocken, nur Stille, nur das Aushalten von Schmerz und Leere und scheinbarer Gottferne. So unendlich fern ist noch die Auferstehung. Die bunten Kugeln rund um die Gräber in den Farben des Regenbogens – sie geben noch Halt vor ganz großer Verzweiflung. Am heutigen Tag können wir auf den Schmerz angesichts von so viel körperlichem und seelischem Leid in der Welt richten und zugleich in dieser Leere und Stille den Blick lenken auf jenen, der gequält, entblößt, verspottet, gedemütigt, missbraucht und grausam hingerichtet wurde. Es ist eine Blickrichtung, die wegführt von den Beschäftigungen mit dem eigenen Unerfüllten. Mit Blickrichtung Kreuz verschieben sich die Dimensionen. Es ist eine Blickrichtung, die frei macht für ein Aufstehen gegen das vielfache Leiden in der Welt.

Dreckig-verwitterte Bretter aus dem Leben

Mit meinen Schülerinnen und Schülern habe ich den Gnadenstuhl von Walter Zacharias nachgebildet. Wir brauchen zwei Bretter. Verwittert sind sie und aus dem Leben genommen. Eines ist noch voller Erde. Gott hat sich in Jesus mit dieser Erde dreckig gemacht. In der Erzählung vom letzten Abendmahl laut Johannesevangelium wurde daran gedacht: Jesus wusch die dreckigen Füße seiner Jüngerinnen und Jünger. In diesem dreckigen Herunterkommen offenbart sich Göttliches. Unter einem der alt-verwitterten Bretter hatten sich Käfer versteckt.

Verbindung von Horizontale und Vertikale

Mit Längsbalken und Querbalken bilden wir ein lateinisches Kreuz. Die Vertikale symbolisiert die Verbindung von Himmel mit Erde, die Verbindung von Gott mit Erde, wobei Gott nicht die Kraft da oben ist, sondern stets die dynamische Verbindung von oben mit Unten und unten mit Oben. Die Horizontale stellt die Verbindung zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Mensch und Welt dar, wobei gerade in dieser Verbindung sich die Vertikale in einer kraftvollen Mitte verbindet. So bilden wir mit zwei dreckig-verwitterten Brettern die göttliche Dramaturgie ab.

Energie des Kreises

Einen Draht formen wir zu einem Kreis. Er ist wie ein Leitungsdraht, durch den Strom fließen könnte, eine unsichtbare Energie. Wir umwickeln ihn mit gold-gelbenem Seidentuch. Sichtbar wird im Symbol Kreis die Unendlichkeit der göttlichen Strahlkraft, die ohne Anfang und Ende und zugleich immer neu im Anfang ist. Im Anfang schuf Gott die Welt. Dort, wo scheinbar das Ende ist, kann Neues beginnen wie im Anfang der Schöpfung. Göttliches ist in der Dynamik des Kreuzes zu finden und die göttliche Geistkraft sitzt als Taube im Schnittpunkt der Achsen.

Die Astgabel

Die Natur kennt keine Kreuzesform. Kreuz in diesem Sinne ist übernatürliches Geschehen. Da treffen sich Transzendenz und Immanenz und verschmelzen zu einem im Augenblick des Daseins. Doch in der Natur gibt es die unendlich vielen Astgabeln, die das Wesen der Bäume charakterisieren.  Es fällt nicht schwer, eine Astgabel zu finden, die wir in die Mitte des Kreuzes legen.

Eine Astgabel steht auch für den Gekreuzigten und seine Arme, die sich im Geschehen des Kreuzes dem Geist und Göttlichen entgegenstrecken. Abertausende Zeitungsmeldungen könnten wir mit Nägeln an dieses Kreuz heften, die von den emporgestreckten Armen berichten: Wir wählen einen aus. Er berichtet vom unerträglichen Leiden in den Flüchtlingslagern und von Bootsflüchtlingen, die im Mittelmeer die Arme den noch verbliebenen Rettungsbooten entgegenstrecken. Zu viele sind schon ertrunken. Es sind die Kinder, die ihre Arme nach den Vätern und Müttern strecken, die sie in blutigen Kriegen längst schon verloren haben und heute in den Flüchtlingslagern vor und hinter den Toren Europas vegetieren. Noch viele Berichte könnten wir heute an dieses Kreuz heften. Von den emporgestreckten Armen der Millionen in den Elendsvierteln dieser Welt, die in Zeiten der Corona-Pandemie besonders gefährdet sind, weil sie kaum Wasser zum Händewaschen haben und weil sie auf engstem Raum zusammengepfercht sind und auf sie keine Intensivmedizin wartet. Die emporgestreckten Arme sind allgegenwärtig und ihr Ruf lässt einmal mehr die vorletzten Worte Jesu am Kreuz hörbar werden. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?“

Klaus Heidegger, Karfreitag 2021