Die neutestamentlichen Erscheinungslegenden begreifen – Lk 24,35-48

Auferstehungserzählungen synoptisch gesehen

16 verschiedene Auferstehungserzählungen finden wir im Neuen Testament. Sechs davon sind die so genannten Grabeserzählungen. Sie bilden die jüngste Schicht der Erzählungen von der Auferstehung. Zwei davon sind spezifisch für das Matthäusevangelium und handeln von der Notwendigkeit der Bewachung des Grabes und dem Betrugsverdacht der Hohenpriester. Die meisten Auferstehungserzählungen finden wir bezeichnenderweise im jüngsten und längsten der Evangelien bei Johannes. Wir sprechen von den Christophanien, wobei wiederum unterschieden werden kann in Erscheinungen, die vor einzelnen stattfinden und andererseits vor einer Gruppe. Die Erzählung von der Erscheinung Jesu vor dem zweifelnden Thomas sowie die so bekannte Erzählung der Erscheinung Jesu vor Maria aus Magdala stammen aus seiner Feder. Nur Lukas wiederum kennt die Geschichte der Emmausjünger. Allein schon diese Unterschiedlichkeit in den Erzählungen macht sichtbar, dass es den Evangelisten nicht darum ging, einen konsistenten historischen Bericht über die Auferstehung zu erstellen. Es ging ihnen vielmehr darum, die Unterschiedlichkeit darzustellen, mit der in ihren je unterschiedlichen Gemeinden – dem so genannten „Sitz im Leben“ – Auferstehung erlebbar geworden ist.

Erscheinungs“legenden“

Die historisch-kritische Exegese (Bibelauslegung) hilft uns die Wahrheit zu entschlüsseln, die tiefer liegt als eine buchstäblich ausgelegte Historizität. Die gesamte Komposition, die verwendeten Bilder und oft jeder Satz sprechen von einer tiefen Wahrheit. Sie zeigen uns vor allem, wie Auferstehung gelingt. Wenn wir diese Geschichten als „Bildgeschichten“ lesen, dann haben sie auch viel mehr mit unserem eigenen Leben und unseren Erfahrungen zu tun. Im Folgenden greife ich einige der Schlüsselworte aus dem Schlusskapitel des Lukasevangeliums (Lk 24,36-43) heraus.

Zwei Jünger

Auferstehung ist kein solitärer Vorgang. Sie geschieht in und durch Gemeinschaft. Oft – vielleicht sogar meistens – geschieht sie in der Begegnung von zwei Menschen, die sich stützen und stärken, die miteinander durch „dick und dünn“ gehen, die sich achten und wertschätzen, ohne sich zu fesseln. Gemeinschaften, Freundschaften und Beziehungen helfen uns durch die Krisen des Lebens. In diesen Corona-Zeiten richten uns auch die Möglichkeiten der virtuellen Treffen manchmal auf. So mancher Video-Chat, so manches WhatsApp oder ein Anruf können uns über depressive Stimmungen tragen. In diesem Gemeinschaftsaspekt liegt auch der Grund für die Bildung von dem, was als „Kirche“ bezeichnet wird. In einem Bericht der heutigen Sonntagszeitung erzählt eine Alkoholkranke , dass sie ohne die Gruppe der AA nie ihre Krankheit in den Griff bekommen hätte. Gerade hier wird wieder sichtbar: Es gibt gerade mit Blick auf die Krisen im Leben die Auferstehungswirklichkeiten – wobei wir dazu die Hilfe von „Engeln“ brauchen. Auch Jesus ist „auferweckt“ worden – durch göttliche Kräfte, die wir nicht in einem fernen Jenseits verorten dürfen.

Emmaus

Auferstehung kennt konkrete Orte. Sie erschöpft sich nicht in einem beliebigen „man“. Sie ist keine Vertröstung in einem Jenseits. Emmaus sind all jenen Millionen Orte, wo hier und heute Auferstehung erfahrbar wird.

Zurückkehren

Wer eine Auferstehungserfahrung erlebt hat, will sie mitteilen, ihnen „brennen die Herzen“, sie wollen die Begeisterung nicht für sich behalten und vor allem – sie wollen sie zurückbringen dorthin, wo andere noch nicht von dieser „Auferstehung“ gehört haben.

Erzählen und bereden

Typisch wiederum für die Auferstehungsefahrungen ist immer dieses miteinander reden und bereden. So geschieht Auferstehung – im Austausch und Gespräch über Dinge, die wirklich zählen, in einem offenen Dialog, wo argumentiert wird, wo zugehört wird.

In eine Mitte treten

Wo eine Gemeinschaft auf egalitärer Ebene entsteht, dort ist eine Mitte zu finden – wie bei einem Kreis, in dem Menschen sitzen und sich in die Augen sehen können. In solcher Gemeinschaft entsteht ein Raum – es ist der Raum für den Auferstanden – und dieser wird mit der Erfahrung von Frieden verknüpft.

Friedensverheißung

Friede hat etymologisch die gleiche Wurzel wie Freundschaft. Sich mit jemanden „anfreunden“, das heißt: Frieden schließen. Unfrieden ist auch das, was jede Gemeinschaft vergiftet und stört. Wo Auferstehung ist, ist Frieden. Wo Unfrieden ist, ist noch keine Auferstehung da.

Betastet meine Wunden

Jesus fordert seine Jüngerinnen und Jünger auf, auf die Wundmale zu blicken, um zu begreifen, was Auferstehung ist. Für heute heißt es: Wo wir mit Empathie auf die physischen wie psychischen Wunden von Menschen blicken, wo wir trösten und versuchen zu heilen, dort ist der Beginn von Auferstehung! In der Aufforderung zu „betasten“ steckt mehr als ein geistiges Geschehen. Es geht immer um konkret-leibliches Tun.

Miteinander essen

Lukas bringt es sehr schön bildlich auf den Punkt, als er Jesus ganz praktisch sprechen lässt: „Habt ihr etwas zu essen?“ Auferstehung ist nicht nur geistig, sondern praktisch-leiblich und sinnlich. Das hat mit den menschlichen Grundbedürfnissen zu tun – und ganz besonders mit dem elementaren Grundbedürfnis von Essen und Trinken. Hier wird wieder sichtbar, worum es bei einer christlich verstandenen Auferstehung geht. Sie geschieht primär nicht in ein jenseitiges Reich hinein, nicht in die Unterwelt Homers oder das Jenseits der Hebräischen Bibel. Sie geschieht im Erleben von Gemeinschaft, von Teilen und Frieden und Miteinander-Essen in dieser Welt. Jesus ist nicht „reiner Geist“ im Sinne von Platon oder ein Schattenwesen wie bei Homer.

Eine objektive Größe

Der Evangelist Lukas will uns mit dieser Legende also zeigen: Auferstehung ist nicht eine Halluzination, sondern eine konkret-leibliche und fassbare Größe. Dass Jesus vor den Augen der Jüngerinnen und Jünger einen Fisch isst, zeigt, dass Auferstehung eine objektive Größe sein möchte, etwas Lebendiges und Abtastbares. Auferstehung geschieht in der Sorge füreinander, im achtsamen Gespräch, im Teilen des Lebens und des Brotes. Dann wird Friede sein und Tränen werden getrocknet.

klaus.heidegger, 18.4.2021