Schmelzende Gletscher, brennende Wälder, Dürre und Hunger, Unwetterkatastrophen – ein Handeln gegen die Apokalypse: Sommer 2022

Der Inn ist mein alltäglicher Begleiter geworden. Er führt in diesem Sommer viel Wasser zum Unterschied von den großen Flüssen Europas. Seine Farbe ist längst nicht mehr grün, sondern gleicht jenem von Gebirgsbächen. Es ist das Schmelzwasser von den braunen Gletschern im Hochgebirge. Ich bin in diesem Sommer mehrmals auf einem Gletscher gewesen: unter den Steigeisen die glucksenden Rinnsale; die Spalten weit offen; von den Steilwänden links und rechts an den Bergflanken hörte und sah ich die Gerölllawinen, die sich lösten wegen des Auftauens des Permafrosts.

Die andere Wahrnehmung: Das Gedränge von Autos und Lastkraftwagen auf der Inntal- und Brennerautobahn ist nicht kleiner geworden. Im Gegenteil. Der Lkw-Verkehr ist auf Rekordniveau. Jede Minute passieren sechs Lkws die Zählstelle bei Ampass, so die Schlagzeile in der „Tiroler Tageszeitung“ vom Mariä-Himmelfahrts-Wochenende. „Man“ jammerte über Monate über die steigenden Treibstoffpreise und „man“ änderte sein Verhalten kaum. Jetzt freut „man“ sich, dass die Preise wieder sinken. Die Flughäfen sind ausgelastet. „Man“ jettet in den Urlaub zu den Stränden, wo das Meer bereits auf 30 Grad aufgeheizt ist und voll von Bakterien und Quallen, weil sich beiderlei Wesen in den warmen Wassern wohl fühlen. Die flüssigkeitsdurchtränkten erwärmten Luftmassen über dem Mittelmeer sind wiederum Nährboden für Unwetter auf dem Festland.

Der Zustand der großen Flüsse Europas sollte eigentlich alle aufgeweckt haben. Dort, wo die Loire in den Atlantik mündet, überspannt eine riesige Brücke nur mehr ein kleines Rinnsal. Die Schifffahrt am Rhein droht zum Erliegen zu kommen. Der Po ist in vielen Abschnitten eine stinkende Kloake und links und rechts davon verdorren die Felder. Hitzewellen in Europa – bis nach Finnland hinauf, brennende Wälder im Süden Europas, Dürre, Ernteausfälle, Extremwettereignisse. Zugleich lässt eine CO-2-Bepreisung auf sich warten und in den Wahlkämpfen bespielen politische Parteien das Wahlvolk mit populistischen Versprechungen, zu denen eine Temporeduktion auf Autobahnen und Bundesstraßen nicht gehört.

Wenn ich davon schreibe, dann gelte ich seit Jahren als „Spielverderber“. Mein „So nicht!“, dem ich im persönlichen Lebensstil gerecht werden möchte, indem ich kaum mit einem Auto mitfahre – selber habe ich keines, indem ich nicht mit dem Flugzeug fliege, kein Fleisch esse, nur das Nötige kaufe und dabei auch auf den CO-2-Fußabdruck der Produkte achte, hat mich etwas einsam gemacht. „Man“ will sich seinen Spaß nicht mit kritischen Gedanken verderben lassen.  „Man“ gönne sich ja sonst nichts.

Ich bin dankbar für Menschen und Bewegungen, die nicht „man“ sind, sondern Verständnis zeigen oder auch leben können. Darüber möchte ich noch schreiben. Zum Beispiel von einer jungen Familie aus dem erweiterten Familienkreis, die es in diesem Sommer schaffte, mit ihren zwei kleinen Kindern zuerst mit ihren Rädern plus Anhänger mit dem Zug bis nach Holland zu fahren und dann von dort 2.200 Kilometer radelnd zurück nach Tirol. Oder das Beispiel von Lena Müller, einer der besten Kletterinnen Tirols, die inzwischen nicht mehr mit ihrem VW-Bus zu den Kletterwänden fährt, sondern bewusst dafür öffentliche Verkehrsmittel und Rad verwendet. Sie hat dazu einen eigenen Führer „klimafreundlich klettern in Tirol“ herausgegeben. So wichtig sind die jungen Menschen von Initiativen wie „Fridays for Future“ oder „Extinction Now“, die mit ihren Protestaktionen die Dramatik aufzeigen. Die kritische Masse freilich liegt bei denen, die heute in ihrem Alltagsverhalten, im Beruf oder in der Freizeit sich möglichst so bewegen oder so handeln, dass sie nicht zur weiteren Aufheizung des Klimas beitragen. Das zeigt sich darin, ob jemand das Klimaticket verwendet oder den Zündschlüssel, was im Einkaufswagerl liegt oder was eben nicht darin zu finden ist. Jene, die mit dem Auto unterwegs sein müssen, halten sich bewusst an Tempo 100/80/30, auch ohne dass es von oben verordnet wird. Zu einem umweltfreundlichen Lebensstil braucht es freilich Menschen, die sich gegenseitig ermutigen, klimafreundlich zu leben.

Klaus Heidegger