Lizumer-Skitourenrunde in Spätmärztagen

Kein Bericht soll es wieder werden, an dem man sich orientierte, um Zeiten und Höhenmeter und Routen zu studieren. Zum Glück gibt es über das Skitourenparadies Wattener Lizum schon viel zu lesen. Und es gibt auch jene, die anders als ich die Mulden und Grate und Hänge und Gipfel genauestens kennen, sommers wie winters. Für mich, obwohl begeisterter Skitourengeher, waren die Gipfel westlich und östlich und südlich der Lizumer Hütte neu. Mag sein, dass es für meine pazifistische Seele bislang fast ein Tabu war, in einem Gebiet, das als Hochgebirgstruppenübungsfeld ausgewiesen ist, unterwegs zu sein. Erfahrenes wiederzugeben, das ist allerdings mein Sinn – Berge mit politischen und philosophischen und existenziellen Gedanken zu verknüpfen, das ist mein Anliegen.

Der März wird bald dem April die Staffel übergeben. Der Winter mit seinem klimatisch bedingten Schnee- und Wassermangel geht seinem Ende zu. In den letzten Tagen hat es noch bis in Gipfelregionen hinauf geregnet. Das von der Klimaveränderung veränderte Wetter spielt spürbar verrückt. Es ist, als weinte der Himmel angesichts der Zerstörungen, die die Menschen der Schöpfung antun. Die Felder im Inntal sind längst grün geworden, die Folien über die Gemüsefelder ausgebreitet und die unnützen Forsythienstauden strahlen ihr Neongelb wieder und die viel nützlicheren sanftgelben Blüten vom Dirndlstrauch locken die Bienen und Hummeln an. Wenn ich auf den dramatisch niederen Pegelstand des Inns schaue, dann freue ich mich über die Wetterprognosen, die für die nächsten Tage endlich Niederschläge vorhersagen, auch wenn dies als Widerspruch zum Skitourenwochenende des Haller Alpenvereins stehen könnte.

Ich bin froh, dass sich die verantwortliche Tourenführerin von den Wetteraussichten nicht abhalten ließ, das Projekt umzusetzen. Ihr vertraue ich auch, dass die beiden Tage gelingen werden. Mehr und mehr habe ich in den letzten beiden Jahren die gemeinsamen AV-Touren zu schätzen gelernt. Das bedeutet vor allem: Stressfrei neue Gipfel kennen zu lernen, die ich mir alleine nicht zutrauen würde, weder technisch noch orientierungsmäßig. In einer Gemeinschaft ist dies möglich. Allein, so beginne ich zu philosophieren, kann manches nicht erreicht werden, was gemeinsam bzw. durch die Erfahrung von anderen gelingen kann. Diesmal sind wir eine große Gruppe geworden – 11 Personen und zwei Tourenführerinnen. Die meisten von ihnen sind mir schon von früheren Touren vertraut geworden.

Fest Mariä Verkündigung. 25. März. Als Theologe und Religionslehrer ist mir dieses Datum wichtig geworden. Irgendwie ist ein Gegrüßt-seist-du-Maria heute auf den Lippen. Viel habe ich über die Bedeutung des Festes und die entsprechende Bibelstelle bereits geschrieben und in der Schule und in Vorträgen dazu gearbeitet. Meine Gedanken sind auch heute bei diesem Fest, während wir zum ersten Ziel, der Eiskarspitze, aufsteigen. Nur kurz mussten wir vom Lager Walchen (1410 m) auf dem Fußweg Richtung Lizumer Hütte und entlang vom Lizumerbach die Ski tragen. Den Aufstieg links zur Grafennspitze kannte ich von früheren Touren. Nun geht es weiter südlich hinein und dann über Hänge und Mulden hinauf ins Joch zwischen Torspitze und Eiskarspitze. Der Wind vertreibt immer wieder die Wolken und lässt die Sonne zwischendurch scheinen. Die Schneedecke ist besonders. Man weiß eigentlich nie, ob man knietief im nassen Schnee versinkt, über dem eine dünne Neuschneeschicht liegt. Lawinenwarnstufe 3 erfordern eine entsprechende Routenwahl und Sicherheitsregeln einzuhalten. Außer uns ist niemand unterwegs. Ich zieh mir für die Passage vom Skidepot beim Eiskarjoch bis zum Gipfel dann lieber die Steigeisen an. Die steilen Abschnitte im Mix von Gras und Schnee über den Abgründen mag ich einfach nicht. Der Gipfel (2611 m) mit dem Kreuz auf den Felstürmen ist gerade groß genug, um uns als Gruppe fassen zu können.

Problemlos geht es dann von der Mulde beim Eiskarjoch mit den Ski den abgeblasenen breiten Nordgrat hinauf zum 2. Gipfel, der Torspitze mit dem orangenfarbenen Vermessungszeichen und Platz für einige hundert Menschen. Aber wir sind die einzigen heute. Die Abfahrt über den Bruchharschdeckel hinunter in die Lizum ist spannend. Bei jedem Schwung schwingt die Frage mit: Hält der Deckel? Die beste Technik ist in diesem Fall, das Gewicht so nach hinten zu verlagern, dass die Ski vorne nicht in das fette Schneenass eintauchen.

Für mich ist es noch zu früh, um gemütlich in der Hütte zu sein. Allein steige ich über die Almen westlich die Hänge auf ein Joch. Die Gegend ist mir nicht bekannt. Welches Joch ist das, denke ich mir, und bin froh, als ich oben eine Tafel sehe. Auf der verwitterten Schrift steht etwas, das wie eine Ironie zu sein scheint: „Unbenannte Scharte“. Die Hütte ist voll belegt, das Personal auf der Hütte ist sehr freundlich, das Essen schmeckt super mit Riesenknödeln und bestem dunklen Bier und die Nacht im Bergführerzimmer angenehm.

Geplant sind für den Sonntag die Berge im Süd-West-Verlauf der Lizum. Ausgehend von 2000 Meter sind es nicht mehr so viele Höhenmeter. Es hat abgekühlt und die Schneedecke unter dem neuen Schnee ist gefroren. Die Route auf die Geierspitze (2857 m) ist problemlos. Es führt an diesem Tag noch keine Spur hinauf. Statt eines Kreuzes ist eine Geierfigur am Gipfel. Obwohl so oft – auch diesen Winter – gesehen, beeindruckt mich immer wieder das Meer von Gipfeln der Tuxer, Stubaier und Zillertaler Alpen rundherum. Im Westen ziehen sich immer wieder dicke Unwetterwolken zusammen. Wie lange wird der Wind noch die schwarzen Wolken zurückhalten können? Mit dieser Frage im Hinterkopf, verzichten wir auf die geplante Besteigung des Lizumer Reckner, der ein felsiger Nachbargipfel vom Geier ist und zugleich der höchste der Tuxer Alpen.

An den Abhängen von Lizumer und Naviser Reckner entlang – für mich sehr fordernd die steilen Schnee-Gras-Hänge über den Abgründen und meinem mangelnden Vertrauen auf die Kanten (da tat der Zuspruch schon sehr gut!) – in ein weites Talbecken mit dem Namen Knappenkuchl nochmals auffellen und auf die Mölser Sonnenspitze (2496 m) und dann in gutem Schnee aber sehr schlechter Sicht hinunter ins Mölstal, wo weit oben das Militär ein Lager errichtet hat.

Es hat zu schneien begonnen. Dicke Schneeflocken. Ein Unfall dämpft unsere Stimmung. Dankbar bin ich der Bergrettung, die die Verunfallte abholt. Entlang des Weges lässt sich vom Mösl-Hochlager fast bis zum Lager Walchen auf der Militärstraße hinunterfahren. Gelangweilt lesend sitzt ein Soldat in seinem Posten. Die rot-weiß-rote Flagge ist aufgezogen. Militärgebiet. Auf dem Weg habe ich tatsächlich einen Blindgänger gefunden. Unwissend, wie man mit Munition umgeht, werfe ich ihn in den Schnee. Wenn es nur so einfach ginge: Alle Soldaten werfen ihre Munition weg. Alle. Es wäre endlich Frieden auf dieser Erde. Warum nicht in der Wattener Lizum damit beginnen?

Kommentare

  1. Hallo Klaus, ein wunderschön geschriebener Beitrag der zum Nachdenken einläd, für ein wunderschön gelungenes Wochenende. Ingrid

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