Karstquellen und von der Sanftheit der Begegnung an Grenzen – Impressionen aus Triest und Friaul, Teil 2

An manchen Orten verdichten sich alte Geschichten über das Leben und über das Streben und Scheitern, vor allem aber über das, wonach in der Tiefe sich Menschen sehnen und was, ganz im Sinne von C.G. Jung,  als Sinn das Leben kostbar macht . Unweit von Triest befindet sich einer dieser besonderen Orte. Kein Wegweiser weist ihn aus als Touristenattraktion. So braust der Verkehr an der vielbefahrenen Staatsstraße 30 Kilometer westlich von Triest vorbei, ohne dass sich wer kümmerte um die Besonderheit dieses Ortes, der nur wenige Meter unterhalb liegt. Mein Freund allerdings kennt ihn. Hier entspringt einer der kleinsten Flüsse dieser Welt. Nur mehr zwei Kilometer wird der Timavo südlich in den Golf von Pinzano fließen. Hier entspringt er aus drei großen Karstquellen. Berechnet man allerdings, dass der Timavo davor 35 Kilometer unterirdisch durch das Karstgebiet fließt und davor auch noch 50 Kilometer in Slowenien, dann ist er doch etwas länger. Ein römischer Hafen lag einst hier und Vergil dichtete, dass die Gefährten des Aeneas auf der Flucht von Troja hier gelandet sein sollen. Passend zu den Quellen, die klar und kräftig und fast wie ein Wunder unterhalb der Felsen herauskommen, gibt es umrahmt von kräftig grünen Bäumen eine gotische Kirche, deren Patron Johannes der Täufer ist. Eine alte Kirche ist es, deren Anfänge mit Reliquien aus der frühen Zeit des Christentums, der Missionierung Osteuropas und der Langobardenzeit zu tun haben. In der Hochgotik erhielt die Kirche San Giovianni al Timavo die heutige Form – ein einfacher gotischer Bau mit unverändert klassischer Form, polygonaler Apsis, Kreuzrippengewölbe und hohen schmalen Fenstern. Die Apsis ist besonders. Hinter dem Volksaltar rinnt Wasser zwischen Karststeinen, um die und auf denen zartgrüne Pflanzen wachsen. Ein Steinpfad führt zu einem Kreuz am östlichen Ende der Apsis. Es ist ein Ort zum verweilenden Philosophieren, während vor der Kirche die Bora um die Kirchenmauern pfeift. Ich denke nach über das Wasser, das mit seiner Sanftheit in die Härte eines Steines Spuren und Formen zaubern kann, so wie hier überall im Karstgestein mit seinen Löchern und Rillen. Ich würde auch nicht mehr das alte Revolutionslied der 60er-Jahre singen, wo es heißt, Wasser sei stärker als der Stein, sondern lieber davon reden, dass sich der harte Stein der Kraft des Wassers öffnet und beide Kräfte miteinander im Spiel des Lebens sind. Es soll keinen Kampf mehr geben, sondern Begegnung, kein Stärker-als, sondern ein Miteinander. Im Wasser am Boden der Apsis spiegeln sich weißleuchtend die gotischen Fenster – so weiß wie der Korpus des Kreuzes. Am Vortag zum Fest Christi Himmelfahrt ist es passend, über Begegnungen nachzudenken, die so oft an Grenzen und in Grenzsituationen geschehen, wohl auch göttliche Begegnungen: wo Leben und Tod sich treffen, und doch das Leben stärker sein kann als der Tod; wo Erde und Himmel sich begegnen und die Erde erfüllt wird vom Himmel, ohne die eigene Begrenztheit zu verlieren.

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