Vom Abbau von Feindbildern und einer neuen Gemeinschaft. Gedanken zum Evangelium Mt 9,9-13

Lieber Matthäus!

Matthäus der Zöllner und nicht der Evangelist

Am heutigen Sonntag bin ich an der Reihe, um in unserer kleinen Gemeinde den Anstoß zum Bibelgespräch zu geben. Während meiner frühmorgendlichen Kraxelei zur Bettelwurfhütte denke ich darüber nach, was uns der Evangelist Matthäus – er heißt also gleich wie du – mit dieser Geschichte über dich sagen möchte. Viel früher, als es noch keine historisch-kritische Exegese gab, wurdest du mit dem Evangelisten gleichgestellt. Evangelist Matthäus = Apostel = ehemaliger Zöllner. Jetzt wissen wir es besser: Der Schreiber des gleichnamigen Evangeliums verfasste seinen Text 50 Jahre nach der Hinrichtung Jesu – also zu einer Zeit, in der du sicher nicht mehr gelebt hast. Aber so genau weiß niemand von deinem Tod – da gibt es viele Varianten, wie du als Märtyrer eventuell gestorben bist.

Vom Zöllner zum Apostel

Der Evangelist Matthäus erzählt also, wie du von Jesus zur Nachfolge berufen worden bist. Eine sehr kurze Geschichte ist es. Nur vier Verse. Du hast ja auch, so hören wir, nicht lange gezögert, als Jesus dich sah und zu dir kurz und bündig, ohne irgendwelche Erklärungen, Begründungen oder Hinweise einfach sagte: „Folge mir nach!“ Und genauso kurz heißt es dann, dass du sofort aufgestanden bist und Jesus nachgefolgt bist. Dies war also dein Kairos, dein Augenblick, auf den du vielleicht schon so lange gewartet hast. Du gibst – so würde es der Philosoph Heidegger sagen – deinem Sein selbst einen ganz besonderen Sinn und findest deine Eigentlichkeit. Ich kann mir gut vorstellen, dass du als frommer Jude schon längst aussteigen wolltest aus diesem Geschäft des Eintreibens der Kopfsteuer, das dir von der römischen Besatzungsmacht aufgezwungen war. Wahrscheinlich lag in diesem Job deine ganze Existenz und du hattest damit zumindest einen kargen Verdienst für deine Familie und dich. Aber du warst daher verhasst von deinen eigenen Leuten und wurdest zum sozialen Außenseiter – weder richtiger Jude noch Römer.

Gemeinsames Mahlhalten als Nachfolge

Was Nachfolgen konkret bedeutet, wird nach der Berufung sofort deutlich. Du hast Jesus und mit ihm Menschen eingeladen, die wie du Zöllner waren, und dazu auch noch solche, die als Sünder gebrandmarkt waren. In deinem Haus habt ihr dann das getan, was im Zentrum menschlichen Zusammenseins steht: Miteinander essen. Da brechen Vorurteile zusammen, da findet Versöhnung statt – ja, und deswegen kann auch gefeiert werden. Jenen, die auf eine genaue Beachtung des Gesetzes getrimmt waren, hat dies nicht gefallen. Sie haben Jesus auf sein in ihren Augen gesetzwidriges Verhalten aufmerksam gemacht. So was tut „man“ doch nicht. Man isst nicht mit Zöllnern und Sündern.

Warum wurdest du von den Pharisäern ausgegrenzt? Du warst ja auch ein Jude – nicht ein römischer Besatzungssoldat und auch nicht ein Helene mit einer anderen Religion. In der Parallelstelle im Markusevangelium wirst du Levi genannt – typisch jüdisch also. Es war somit dein Beruf, der dich aus der Perspektive der damals geltenden Reinheitsgesetze zum Außenseiter machte, mit dem man nicht zusammen essen geht. Ich kann mir gut vorstellen, wie dich das gekränkt hat. Du wolltest ganz Teil der jüdischen Gemeinschaft sein, in den Tempel gehen, mit anderen die vielen Feste feiern. Aber es ging nicht. Dann aber kam Jesus und in der ikonographisch-symbolischen Schreibweise der Evangelien wurdest du einer der Zwölf.

Was nehme ich mit von deiner Geschichte ins Heute meines und unseres Lebens?

Drei Fragen für mich und uns heute

Der Zöllner Matthäus war verstrickt in ein System der Ausbeutung, der Gewalt und Unterdrückung. Das von den Römern unterjochte jüdische Volk litt vor allem unter der Kopfsteuer, die viele in den Ruin oder in die Schuldknechtschaft trieb. Heute wird die Welt bedroht durch den Klimawandel. In Kanada brennen die ausgetrockneten Wälder. Die Schere zwischen Arm und Reich wird wieder größer. Die Festungsmauern der Europäischen Union werden noch mehr hochgezogen. Und es sind vor allem die Kriege – in der Ukraine, im Sudan oder in Indien – die so unermesslich viel Leid und Zerstörung nach sich ziehen. Nachfolge heute würde bedeuten, dagegen aufzustehen und Lösungen für eine friedliche, nachhaltige und gerechte Welt zu finden und zu leben. Wie kann meine Nachfolge heute aussehen?

Der Zöllner Matthäus konnte aussteigen, weil es Menschen gab, die ihn dazu ermutigten. Zu seiner Eigentlichkeit fand er durch die Begegnung mit Jesus und seiner Jünger:innengemeinschaft. Wo sind jene Menschen, die mir dabei helfen, ein authentisches Leben zu führen, das den Idealen des Evangeliums entspricht?

Der Zöllner Matthäus hat Grenzen abgebaut, die Menschen zueinander aufgebaut haben. Jesus hat dazu die Feindbilder aufgebrochen, um so Versöhnungsschritte aufzuzeigen. Er sieht im Zöllner nicht den Feind, sondern erkennt das Gute in ihm. Daher nimmt er bewusst in einem Gleichnis den Zöllner als einen, der den göttlichen Willen erkennt und entsprechend handelt. Der Zöllner ist fähig zur Barmherzigkeit. Wo erlebe ich Ausgrenzungen oder verletzende Stereotypisierungen. Heute am Vatertag muss kritisch gefragt werden: Wie oft werden auch die Männer stereotyp auf eine bestimmte Genderrolle festgelegt, die ihnen nicht gerecht wird? Männer sind nicht einfach so! Sie können sein wie Matthäus – Geschenk Gottes.

Klaus Heidegger, 11. Juni 2023

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