
Als wir um 6.00 Uhr vom Gasthof Feuerstein im hinteren Gschnitztal starten, dämmert die Nacht in den Tag hinein. Es geht zunächst über den Gschnitzbach und im Dunkeln lassen sich die Umrisse eines verlassenen alten Bauernhofes erahnen. Ein Gelbschild zeigt: Innsbrucker Hütte 3 Stunden. Zügig gewinnen wir auf dem alten Schäfersteig an Höhe. Es riecht intensiv nach den braun-schwarzen Hügelchen, die die Schafe am liebsten auf dem schmalen Steig hinterlassen. Die Tritte finden Halt auf rutschig-lettigem Terrain. Auf halber Höhe Richtung Innsbrucker Hütte streicheln uns dann die Sonnenstrahlen. Das Gschnitztal unter uns ist noch wie mit einem kuscheligen Federbett von einer weiß-flaumigen Wolkenschicht bedeckt. Meine Gedanken kreisen um die dystopischen Bilder, die ich wieder und wieder aus den Medien ertragen muss und über die ich so oft schreibe: Bilder des Krieges und der Zerstörung, Bilder der Hybris und der Unvernunft, politische wie private Geschichten der Irrationalität. Dann erscheint mir die Wolkendecke, durch die wir gestoßen sind, wie ein Gebilde aus all den Tränen angesichts des grenzenlosen Leids, das Menschen erfahren.
Schnell sind wir in eineinhalb Stunden auf der Innsbrucker Hütte (2377 m). Stolz liegt sie auf einem Felsen hoch über den steilen Hängen und Almwiesen. Auf der Hütte sind die Übernachtungsgäste teils noch beim Frühstück. Unser heutiges Bergziel gehen wir nun zu viert an. Wir sind von Beginn an ein sich mehrfach und auf viele Weisen stärkendes Team – was wohl die bedeutendste Erfahrung auch an diesem Bergtag bleiben soll. Der Habicht ist mir vertraut aus vielen Blickwinkeln, da er weit herum mit seinen Ausmaßen und seiner Höhe die Gegend dominiert. Mit ihm verbinde ich auch verschiedene Aufstiegsbegegnungen aus früheren Jahren, die nun wieder im Herz und Hirn lebendig werden. An diesem schönen Herbsttag sind wir nicht allein unterwegs zu diesem prominenten Gipfel. Oft geht es über Blockwerk, dann wieder Steige im Schrofengelände, dann entlang von stählernen Seilen und an manchen Stellen gibt es auch leichte ungesicherte Klettereien. Dort heißt es, Tritte und Griffe stets gut zu prüfen. Auf der Schwierigkeitsskale der schwarzen Bergwege liegt er bei 4 von 6. Verschwunden ist längst der Firnfeldgletscher, über den früher gestiegen werden musste. Gute Markierungen weisen nun den Weg entlang vom Grat auf einen kleinen Vorgipfel hinauf.
Die 360-Grad-Aussicht nach 2000 Höhenmeter-Aufstieg am Habichtgipfel auf 3277 Höhenmetern rechtfertigt die königliche Prominenz des Gipfels. Um uns: der Serles-Kamm mit der Kirchdachspitze, auf der ich vor ein paar Tagen war. Die unzähligen Gipfel der Stubaier- und Tuxer-Alpen, der Blick im Süden mit den imposanten Gipfeln der Tribulaun-Kette und weit im Norden die Ketten oberhalb von Innsbruck. Man blickt vom Habicht – wie ein Habicht wohl die Landschaften stets stolz von oben erspüren kann, wobei ich weiß, dass der Name des Gipfels nichts mit dem gleichnamigen Raubvogel zu tun hat, sondern mit Haogar – dem Mähen einer Bergwiese, oder dem Dialektwort Haogar, was mächtig und stark bedeuten soll. Alle drei etymologischen Ableitungen mögen jedenfalls ihre Berechtigung haben. Abstiegsrast dann nochmals auf der Terrasse der Innsbrucker Hütte mit Kurzbesuch beim nahen Hüttensee, der zugleich das Trinkwasserreservoir ist – also nichts für eine kühle Abkühlung.
Ins Gschnitztal hinunter wählen wir wieder den kurzen steilen Anstiegsweg. Wegen Steinschlag ist der früher meist begangene Panoramasteig entlang der Kalkwand hinunter nach Gschnitz inzwischen gesperrt. Zurück im Gschnitztal wird das Ausmaß der Zerstörung sichtbar, das ein Unwetter vor einigen Wochen angerichtet hat. Wo einst das Mühlendorf war unterhalb des Wasserfalles, planieren jetzt Raupen und Bagger eine Schotterfläche. Es sind auch die klimatischen Bedingungen, die zu solchen Verwüstungen führen. Damit fallen sie nicht einfach vom Himmel, sondern sind menschengemacht, sind Resultat des destruktiven ökologischen Verhaltens so vieler, die nicht dafür bezahlen, dass sie anderen die Lebensbedingungen kaputt machen. Leider aber fehlt für solche Einsicht ökologische Vernunft, Solidarität sowie individuelle wie kollektive Verzichtsfähigkeit.