
Milliarden goldener Nadeln erzählen vom zarten Grün des Frühlings und leuchten strahlend im Licht der herbstlichen Sonne. Föhnwind weht durch die Lärchenhaine und löst die Nadeln von den Bäumen. Es ist so still, als könnte ich hören, wie die Nadeln auf den Boden fallen oder wie ein Eichhörnchen über meinen Weg hüpft. Die Wiesen riechen nach frischer Sure. Majestätisch ragen die Kalkwände des Wettersteins oberhalb der Wälder und Wiesen in den Himmel. Bei meiner Runde von Telfs über das Mieminger Plateau, den Holzleitensattel und durch das Gurgltal und dann über Karrösten ins Inntal und schließlich am Radweg zurück nach Ötztal-Bahnhof kann ich wieder in körperlich-seelischer Ganzheit in herbstliche Natur- und Kulturlandschaften eintauchen. Ich habe eigentlich kein bestimmtes Ziel, weil das Fahren und Sein in der Natur schon Ziel in sich ist. Das Gravelbike ist einmal mehr das ideale Rad für diese Strecke, auf der es großteils auf Wald- und Wiesenwegen geht und selbst einmal kurze Single-Trails Abwechslung bieten. Da ist auch Zeit zum Verweilen und um Gedanken und Gefühle fließen zu lassen.
Ein erster Stopp ist zu Beginn bei der Kapelle St. Moritzen. Sie liegt am Rande von Telfs und am Anstieg vom Inn zum Mieminger Plateau hinauf. Da ich gerade wieder in der Vorbereitung für einen Vortrag zu Krieg&Frieden bin, ist hier ein passender Ort für eine erste Pause und ein einsames Gedenken. Die Verehrung des Heiligen ist kirchengeschichtlich voller Widersprüche. Man hat aus diesem Mann den Patron der Soldaten, der Infanterie und der Waffenschmiede gemacht. Man stellt ihn dar als römischen Soldaten mit Lanze und Kettenhemd – gerade so, als böten Heiligsein und Soldatensein eine Einheit. Man könnte also den Heiligen aus dem Ende des 3. Jahrhunderts heute im 21. Jahrhundert als Patron sehen, der den militärischen Aufrüstungskurs und den Kriegen der Gegenwart seinen Segen gibt. Für mich steht Mauritius aber genau für das Gegenteil. Er hat sich gemeinsam mit seinem ganzen Trupp geweigert, weiterhin dem Befehl des Kaisers Maximian zu gehorchen und ist nicht in eine weitere blutige Schlacht gezogen. Mauritius und seine Gefährten könnten wir heute als Deserteure oder Kriegsdienstverweigerer bezeichnen. Wenig später mache ich nochmals Halt bei dem kleinen Kirchlein St. Georg in Obermieming. Und wieder ist hier das Martialische verewigt. Am großen Hochaltarbild ist in römischer Rüstung die legendäre Gestalt des Hl. Georg dargestellt, der kampfesfreudig und lustvoll seine Lanze in den Körper des Drachen stößt. Schnell überquere ich die Mieminger Landesstraße mit ihrem drachenhaften Gedröhne und Gestank und in Wald- und Wiesenwegen geht es weiter – oftmals in die steilen bleichen Kalkwände hinaufblickend. Herbstlich kühl ist die Fahrt durch das Gurgltal. Ich wähle bewusst dann die Sonnenseite nach Karrösten hinauf. Tatsächlich ist es hier angenehm warm, während der mächtige Acherkogel gegenüber schneebedeckt ist. Jeder Ort – mag er noch so klein sein – atmet Geschichte. So auch Karrösten. Das kleine Dorf ist Geburtsort eines Bundeskanzlers zu Beginn der 60er-Jahre. Alfons Gorbach war zum einen als Soldat in der Isonzo-Schlacht, wo er schwer verwundet wurde, war dann später sieben Jahre im KZ Dachau. Er galt als Versöhnungspolitiker. Seine Devise lautete: „Besser im Frieden die Hälfte für jeden, als im Kampf ums Ganze für alle nichts.“ Es wäre wohl lohnend, mit Blick auf die gegenwärtigen Kriege und dem ganzen Kriegstauglichkeitsgerede solche Worte in die Politik umzusetzen. Karrösten hat noch eine viel ältere Geschichte hinein in die Römerzeit und später dann waren hier bis zu tausend Knappen im Erzabbau tätig. Die Knappen allerdings zogen beginnend mit den Aufständen zur Reformationszeit zunehmend mehr weg. Über Karres geht es für mich wieder hinunter ins Inntal. Kostbar sind schließlich dann noch die letzten Kilometer durch den Föhrenwald entlang des Inns. Von Schlierenzau führt eine schmale Hängebrücke hinüber nach Ötztal-Bahnhof.