
Tag 1: Vom Talschluss des hinteren Martelltals beginnt der Aufstieg zunächst durch den Wald vorbei an der Zufallhütte. Skibergläuferinnen sausen an uns vorbei. Wir – eine AV-Gruppe der Sektion Hall – gehen es gemütlich an. Unser Ziel ist die Martellerhütte und es sind vom Ausgangspunkt bis dorthin lediglich 500 Höhenmeter. Eine alte Steinmauer erinnert daran, dass einst das Martelltal vor den Schmelzwassern der Gletscher beschützt werden musste. Ein altes Badhaus erinnert an den fürchterlichen Gebirgskrieg im Ersten Weltkrieg. Im Steilhang vor der Hütte schauen manchmal eisige Flächen heraus. Die Spur dazwischen ist problemlos begehbar. Die Martellerhütte auf 2610 m ist umrundet von zahlreichen Dreitausendern. Es bleibt am Nachmittag noch genügend Zeit und Energie, um rund 600 Höhenmeter zusätzlich weiter hinauf zu gehen und im Pulver einige Schwünge zu ziehen.
Tag 2: Weiß ist der Himmel, weiß wie der Schnee, rundum die Martellerhütte nur ein Weiß. Weißbedeckt die Gletscherflächen, die zum Monte Cevedale und seinen Nachbargipfeln hochziehen, der sich aber im Weiß von weißen Wolken und Nebelschwaden versteckt hält. Das Weiß verhindert heute, dass wir zum Gipfel aufbrechen, schenkt uns zugleich Zeit, um lebensrettende Übungen mit der LVS-Ausrüstung zu machen und Spaltenbergungsübungen auszuprobieren. Nachmittags fahre ich im Weiß des Tages in Richtung Tal hinunter und genieße es, mich durch das Weiß wieder hinauf zu bewegen – ganz alleine, nur in ein Weiß getaucht.
Tag 3: Verlockend weiß wie eine Zahnpastawerbung liegen die frisch angeschneiten weiten Gletscherflächen hinauf zum Doppelgipfel des Monte Cevedale an diesem Sonntagmorgen vor uns. Der Wetterbericht sagt allerdings voraus, dass bald wieder eine Wolken-Nebel-Front vom Süden die Berge umhüllen wird. Ein Bergsteiger beklagt sich über die Wettersituation. Ich sage: „Gut, dass die Gletscher neue Nahrung bekommen haben.“ Die Tourentscheidung lautet: Als Alpenvereinsgruppe kein Risiko eingehen. Der Gletscher, über den wir gehen müssten, ist spaltenreich. Die formschöne Königspitze gegenüber hat eine kräftige Wolkenfahne. Ich bin dankbar, dass sich der Cevedale und die mit ihm verbundene Zufallspitze heute morgens noch einmal in voller Schönheit zeigten. Von der Martellerhütte geht es nun im frischen Pulverschnee hinunter – und hinaus durch das Martelltal: ein schneller Wechsel vom tiefen Winter in den kräftigen Frühling mit hellrosa blühenden Kirschbäumen. Das Glück im Leben liegt ohnehin nicht primär im Erreichen eines Gipfelzieles, sondern in heilsamen Begegnungen – mit unberührter Natur, in stärkender Gemeinschaft und in wertschätzenden Beziehungen.