Auferstehung verstehen und begreifen

Auferstehungszweifel als kritische Anfrage an die Vernunft

Karl Rahner, jener Theologe, der mehr als jeder andere die theologische Fakultät prägte, an der ich studieren durfte, schrieb schon vor vielen Jahrzehnten: „Wir verfehlen von vornherein den Sinn von Auferstehung im Allgemeinen und auch bei Jesus, wenn wir uns ursprünglich an der Vorstellung einer Wiederbelebung eines physisch-materiellen Leibes orientieren.“ Für mein Denken über Auferstehung ist es das Leitzitat.

Manchmal werde ich noch von Menschen, die oft schon ihre Bindung an eine der Kirchen verloren haben, mit der kritischen Bemerkung konfrontiert, dass Auferstehung doch mit der Vernunft nicht begriffen werden könne, dass all die Geschichten in der Bibel darüber doch nicht wahr seien, dass das doch ein frommer Glaube ohne realen Gehalt sei.

Es sind wohl mehrere Gründe, die zu solchem kritischen Hinterfragen des Auferstehungsglaubens führen, wobei die Gründe sich wechselseitig bedingen und verstärken. Ein wesentlicher Grund für die Zweifel liegt darin, die symbolische Sprache der biblischen Auferstehungsberichte fundamentalistisch-wortwörtlich zu lesen. Wenn die Mitte des christlichen Glaubens nicht mehr verstanden wird, werden sich mehr und mehr kritische Menschen von den Kirchen entfernen. Als Religionslehrer konnte ich im Unterricht die bildhaft-symbolischen Auferstehungsgeschichten decodieren. Im ersten Moment war es dann für viele meiner Schülerinnen und Schüler eine heilsame Ent-Täuschung. Von Kindergartentagen an bis in die 5. Klasse eines Oberstufengymnasiums lebten sie mehr oder weniger mit der Vorstellung: Was in den Evangelien beschrieben wird, will historisches Faktum sein. Zugleich konnte ich die Zweifel aufgreifen, dass es doch mit der Auferstehung nicht so gewesen sein könnte, dass ein Mensch, der zuvor grausam hingerichtet worden war, nun plötzlich durch geschlossene Türen gehen könnte, die Jünger und Jüngerinnen anspricht und mit ihnen zusammen isst. Wenn dann nicht der besondere Charakter dieser Erzählungen klar gemacht würde, führte es dazu, dass die biblischen Geschichten generell als Märchen oder gar als Lügengeschichten abgetan werden, was zu einer weiteren Distanzierung vom christlichen Glauben beitrüge.

Historisch – doch in welchem Sinne?

Zugleich will ich auch die Historizität der Evangelienberichte nicht leugnen und der Behauptung widersprechen, die den biblischen Auferstehungsgeschichten jedwede Historizität abspricht und sie nur als fromme Geschichten abtut. Es wird behauptet, man dürfe doch die Auferstehungsberichte nicht historisch lesen, sondern nur spirituell deuten. Die Historizität liegt aber auf einer anderen Ebene. Historisches Fakt ist, dass sich die Jesusbewegung nach der Hinrichtung nicht einschüchtern ließ, sondern die Sache Jesu weiterführte. In diesem Sinne ist das Faktum der Auferstehung durchaus historisch. Ist es nicht auch leiblich, wenn die urkirchlichen Gemeinden nach der Hinrichtung Jesu begannen, das, was sie hatten, miteinander zu teilen (Apg. 2,4), wenn so niemand mehr unter ihnen Not litt? In diesem Sinne ist Auferstehung durchaus materiell begreifbar und nicht rein spirituell. In diesem Sinne – und nur in diesem Sinne – ist Jesus physisch und leiblich auferstanden. Das ist zugleich weit mehr als jede Spekulation über ein zombieartiges Fleisch-und-Blutwerden Jesu, wie es so oft in den Köpfen der Menschen herumspukt. Die evangelische Theologin Dorothee Sölle brachte es prägnant auf den Punkt: „Wäre Jesus nicht in unseren Herzen und Werken auferstanden, so wäre er noch immer im Grab!“ Weil aber dies ein irrealer Aussagesatz ist, dürfen wir Auferstehung Jesu feiern. Wenn Ostern lediglich verstanden wird als Ereignis, das vor 2000 Jahren war, dann wird es bedeutungslos. Und noch einmal sei Dorothee Sölle zitiert: „Ostern ist entweder existentiell, oder es sagt überhaupt nichts und wird mit Recht vermarktet.“

Auferstehung ins Jetzt hinein

Die gängigste Voreingenommenheit mit Blick auf Auferstehung lautet, dass es ein Ereignis wäre, das mit einem Jenseits bzw. mit einem Leben nach dem physischen Tod zu tun habe. Wer die KI befragt oder eine Antwort „googelt“, wird zu solchem Verständnis geführt. So lautet der erste und zugleich leicht in die Irre führende Satz bei Wikipedia unter dem Stichwort „Auferstehung“: „Als Auferstehung wird die Erweckung Verstorbener zu einem ewigen Leben nach oder aus dem Tod bezeichnet.“ Gedacht wird in einer Zeitstrecke: Ein irdisches Leben, das mit dem Tod endet und nach dem Sterben in einem jenseitigen Zustand nach der Auferstehung weitergeht. Dominik Schafferer, mein Nachfolger als Vorsitzender der Katholischen Aktion der Diözese Innsbruck, bringt ein anderes Zeitverständnis ins Spiel, wenn er in einem Kommentar zum Auferstehungsbericht in der Tiroler Tageszeitung schrieb: „Österliches Leben beginnt dort, wo Menschen sich nicht vorverurteilen, bloßstellen, festnageln, diskriminieren oder einander den Tod wünschen, sondern sich auf die Suche nach einer Kultur des Lebens machen: Sie verzeihen, schlichten Streit, trösten einander, grenzen nicht aus, nehmen sich einander an … In diesen Momenten wird Auferstehung schon jetzt erfahrbar und der Himmel berührt die Erde.“

Gott ist im Spiel – doch welche göttliche Kraft?

Eine präsentische Auferstehungssicht kann auch an Hand des Begriffes „Auferweckung“ verdeutlicht werden. Wer ist es, der Jesus aus dem Totenhaus auferweckt? Die theologische Standard-Antwort kommt schnell: „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt.“ Wir können dabei jedoch nicht stehen bleiben, sondern müssen auch die Gottesfrage stellen: „Wer und wie ist Gott?“ Schließlich wird in einer inkarnatorischen Theologie festgehalten, dass Gott im und durch das Handeln der Menschen wirkt und dass der Geist Gottes im Tun der Menschen lebendig werden kann. Somit sind es wir Menschen, die als Werkzeuge Gottes und beseelt von göttlichem Geist Jesus zum Leben erwecken können.

Johannes beschreibt in der Erscheinungserzählung  im 20. Kapitel seines Evangeliums diese Auferstehungswirklichkeit eindrucksvoll: Maria Magdalena spielt die Schlüsselrolle, weil sie die Liebe verkörpert, mit der sich Jesus und seine Jüngerin begegnen konnten. Es ist eine Liebe, die mit dem Tod nicht aufhört, sondern gerade eine Situation des Todes überwinden lässt. Deswegen würde es auch nicht passen, die Worte des Auferstandenen mit „noli me tangere“ („berühre mich nicht“) zu übersetzen, sondern – wie es im griechischen Original heißt, mit „halte mich nicht fest“. Es ist eine Liebe, die auch freilassen kann, gerade weil sie aber auch die liebend-zärtliche Berührung miteinschließen darf.

Wie wurde Auferstehung Jesu weiterhin historisch fassbar? Dass sich Maria Magdalena und mit ihr die anderen Jüngerinnen und Jünger angesichts der brutalen Hinrichtung ihres Meisters nicht geschlagen geben, dass sie so ganz in seinem Sinne weitermachen, hinausgehen, heilen und die Botschaft Jesu weitertragen. Jesus lebt in den Herzen und Händen jener Menschen, Gruppen und Gemeinden weiter, die von seinem Geist angesteckt worden sind. In dem Film „Jesus von Montreal“ aus den 80er-Jahren wird dieser Gedanke so ganz anders als in der Hollywood-Magdalana-Verfilmung umgesetzt. Als der Schauspieler Daniel, der im Passionstheater die Rolle von Jesus spielt, stirbt, werden seine Organe entnommen. Sein Spenderherz schlägt in einem anderen Menschen, seine Augen machen eine Blinde sehend. So können wir Auferstehung auch verstehen.

Wenn wir die Wirklichkeit der Auferstehung begreifen wollen, nehmen wir zunächst die neutestamentlichen „Berichte“ von Auferstehung – die freilich immer auch schon Interpretationen und Bilder einer bestimmten Erfahrung von Auferstehung sind. Zum anderen aber ist es nicht weniger bedeutsam, die eigenen Auferstehungs-Erfahrungen nicht weniger ernst zu nehmen und beides wiederum in eine Verbindung zu setzen. Zwischen beiden Erfahrungsebenen besteht eine positive Dialektik. Je besser es mir gelingt, Auferstehungs-Erfahrungen in meinem eigenen Leben wahrzunehmen, desto besser kann ich die neutestamentlichen Berichte verstehen. Je mehr ich mich auf die neutestamentlichen Auferstehungsberichte einlassen kann, desto besser werde ich auch in meinem eigenen Leben Auferstehungserlebnisse begreifen können.

Historisch-kritische Aspekte zu den neutestamentlichen Auferstehungserzählungen am Beispiel der Emmaus-Erzählung

Die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes berichten unterschiedlich von der Auferstehung. Sie stimmen darüber überein, dass Jesus wirklich gestorben ist. Aber dann gehen die Berichte auseinander. Markus erzählt, dass die Frauen ein leeres Grab gefunden haben und dann erschrocken weggelaufen sind und niemandem davon erzählt haben. In den Auferstehungserzählungen bei Matthäus und Lukas erfahren wir schon mehr über die Art und Weise, wie Jesus nach dem Osterereignis seinen Jüngerinnen und Jüngern erschienen ist. Bei Johannes wiederum lesen wir von einem Jesus, der Thomas seine Wunden zeigte, mit den Jüngerinnen und Jüngern am Ufer Fische aß und auch sonst sich als Auferstandener mehrfach zeigte. Die Evangelisten haben unterschiedliche Berichte, weil sie zeigten, dass bereits viele Jahrzehnte nach dem Tod Jesu Ostern sich existenziell ganz unterschiedlich ereignet hatte.

Die Emmausperikope aus dem Lukasevangelium, die am Ostermontag in den Kirchen gelesen wird, zeigt uns, wie wir die Auferstehung Jesu Christi in einer Weise verstehen müssen, dass sie nicht länger als Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken konstruiert wird. Eine Dekonstruktion fundamentalistisch-buchstäblicher Interpretationen ist notwendig. Damit einher geht die Konstruktion eines kritischen Auferstehungsbildes, das dem Charakter der Evangelien gerecht wird.

Die Emmaus-Perikope finden wir nur im Lukas-Evangelium. Eindeutig ist sie also lukanisches „Sondergut“, in dem sich die Erfahrungs- bzw. Auferstehungswirklichkeit der lukanischen Gemeinde widerspiegelt. Der Text dürfte um das Jahr 90 n. Chr. entstanden sein. Redaktionsgeschichlich zählt die Emmaus-Erzählung zu der Gattung der „Erscheinungserzählungen“, mit denen die vier Evangelien abschließen und die die jüngsten Schichten der jeweiligen Evangelien bilden. Exegetisch ist somit klar, dass es bei diesen Erzählungen nicht darum geht, einen historischen Bericht über die Auferstehung zu bringen, sondern bildhaft zu beschreiben, was Auferstehung bedeutet. Sie entspricht der lukanischen „Wegetheologie“. Christliche Existenz realisiert sich im Unterwegssein. Der Auferstandene ist Begleiter.

 (1) Sich auf den Weg machen

Es heißt zu Beginn: „… und siehe, zwei von ihnen wanderten an diesem Tag …“ (Vers 13) Die beiden Emmausjünger machen sich nach der Passion Jesu Christi auf den Weg. Wir können uns historisch in sie hinein fühlen. Es ist die Erfahrung, dass dieser Jesus von Nazareth, der für sie Hoffnung auf Befreiung bedeutet hatte, von den politisch Mächtigen kaltblütig und bestialisch hingerichtet worden ist. Wie soll nun ohne ihren Rabbi die Sache der Befreiung und des Reiches Gottes weitergehen? Ist ihr Projekt nicht gescheitert? Jedenfalls gehen sie weg von jener Stadt, die für sie zu einer Stadt des Grauens geworden ist. Vielleicht auch gehen sie mit Angst weg, dass auch ihnen, den Jesus-Anhängern, an den Kragen gehen könnte. Weg also von der Stadt, die voll von römischen Besatzungssoldaten und Tempelwachen, voll von den Günstlingen der römischen Besatzungsmacht und heimischen Kollaborateuren war. Heute könnten wir uns auch fragen: Ist das Projekt Jesu Christi nicht gescheitert, wenn wir die gegenwärtige Lage in der Welt betrachten angesichts der andauernden Krieg und neuen Kriegsvorbereitungen, angesichts von so viel Armut und Elend in der Welt,  der fortdauernden Erhitzung der Erde, der Ausbeutung von Ressourcen oder den andauernden Kriegen. Sind wir Couch-Potatoes, wenn wir hören und lesen von den Abermillionen Menschen, die chronisch unterernährt sind und Hunger leiden? Oder machen wir uns auf den Weg, raus aus Krieg, Ungerechtigkeit, Naturzerstörung, selbst wenn wir noch nicht wissen, wohin der Weg uns führen wird? Der Weg, der beschritten werden muss, ist vielfach ein Weg der Umkehr. Dies wird sehr konkret sein: Heute bedeutet es angesichts des Klimawandels wohl zunächst darauf zu achten, den CO2-Ausstoß durch das persönliche Verhalten möglichst niedrig zu halten.

(2) Miteinander unterwegs sein

„Und siehe, zwei von ihnen …“ (Vers 13) Die Emmausgeschichte ist eine Geschichte von Zweien. Man kann sich das gut erklären: Zu zweit haben sie mehr Mut, zu zweit fühlen sie sich etwas sicherer in dieser für sie bedrohlichen Zeit. Einer kann den anderen korrigieren. Zu zweit, das hatten sie bereits von ihrem Meister gelernt, der die Jünger und Jüngerinnen zu zweit ausgeschickt hatte. (Lk 10,1) Die beiden haben sich auf ein Ziel geeinigt, das einen konkreten Namen hat: Emmaus. Sie haben sich kein großes Ziel gesetzt, keine weite Wegstrecke. Es sind nur 60 Stadien, das sind 12 km von Jerusalem nach Emmaus. Sie überfordern sich nicht.

In dieser Paarkonstruktion wird zugleich Raum für Kommunikation geschaffen. Für heute stellt sich die Frage: Mit wem bin ich unterwegs, um offen zu sein für die Auferstehungswirklichkeiten? Wo bin ich allein mit meinen Träumen von einer besseren Welt und wo kann ich sie mit jemandem teilen? Ein Sprichwort trifft diese Auferstehungswirklichkeit des Miteinanders punktgenau: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“

Freilich sind es in der Emmaus-Geschichte zunächst nur zwei! Darin liegt auch eine Hoffnung. Auch damals, am ersten Ostermorgen und dann auf dem Gang nach Emmaus, waren es noch nicht viele. Auch die zarten Ansätze eines anderen Lebens sind heute nur klein und bestimmen nicht die Politik dieser Welt, doch liegt darin schon der Keim einer anderen Welt. Das gibt Mut.

(3) Miteinander reden

„… und sie redeten miteinander über all diese Ereignisse.“ (V 15) „Als sie miteinander redeten und nachdachten …“ Die kommunikative Grundstruktur des Glaubens an Auferstehung wird gleich zu Beginn der Erzählung deutlich. Zwei Menschen sind im Dialog. Sie reden nicht aneinander vorbei; sie führen keine Monologe; sie quatschen einander nicht voll; sie tauschen keine Belanglosigkeiten aus; nicht einer versucht den anderen zu überzeugen. Nein: Sie reden miteinander, heißt es ausdrücklich. Ihre Worte sind auch geprägt von einem „Nachdenken“. Ich kann mir vorstellen, wie sie Pausen machen, um die Worte des jeweils anderen zu erwägen, und sich dabei auch in die Augen schauen. Wenn Dialog so stattfindet, wenn Kommunikation in dieser Weise gelingt, dann geschieht es, dass sich Jesus dazugesellt. Wo sind meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, mit denen ich über die „Ereignisse“ vom Leben und Sterben und Auferstehen Jesu reden kann? Wo ist Kleopas – so wird einer der beiden Emmausjünger namentlich genannnt –  an meiner Seite?

(4) Jesus nähert sich

„… da näherte sich Jesus selbst und ging ein Stück Weg mit ihnen…“ (Vers 15b) Jesus drängt sich nicht auf. Dieses Nähern hat etwas Zärtliches und etwas Vorsichtiges an sich. Er erschreckt die beiden nicht. Er dirigiert nicht. Jesus bestimmt nicht, wo es lang gehen soll. Er geht einfach mit. Er passt sich den beiden an. Auch davon können wir von Jesus lernen. Wie oft bin ich geneigt, anderen meinen Weg aufzudrängen, statt mit den anderen unterwegs zu sein?

(5) Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und Trauer

„Und sie blieben niedergeschlagen stehen.“ (Vers 17) Die beiden Jünger gestehen sich ihre Niedergeschlagenheit und Trauer ein. Sie sind nicht Prototypen einer Keep-Smiling-Gesellschaft, haben nicht jenes Dauergrinsen von Mächtigen in Politik und Wirtschaft, das Zeichen für ihre Art des Erfolgs ist. Die beiden haben den Mut, ins Dunkle zu blicken und auch die Abgründe des Lebens anzunehmen. Typisch für diesen Jesus ist, dass er sich gerade den Menschen in ihrer Niedergeschlagenheit zuwendet. Es klingt an, was er gesagt hatte: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.“ Diese Botschaft bleibt. Auch heute kann die Erfahrung gemacht werden: Wir können uns dem Dunklen und Schweren in unserem Leben stellen, weil gerade darin Begegnung mit dem Auferstandenen möglich werden kann. Wir können und müssen alle Gefühle des Schmerzes, der Enttäuschung, der Mutlosigkeit und der Zerbrochenheit radikal ernst nehmen.

(6) Erkennen beim Brotbrechen

„Als er mit ihnen zu Tische lag, nahm er das Brot, dankte; brach es und gab es ihnen.“ Die beiden Jünger machten eine eucharistische Grunderfahrung. Oder besser gesagt: Die lukanische Gemeinde machte die eucharistische Grunderfahrung und kleidete sie in die Geschichte der Emmaus-Jünger. Martina Kraml beschreibt in ihrem Buch „Verwandlung auf das Leben hin“, dass Essen und Trinken Orte der „Berührung Gottes“ sein können und damit die erfahrbare Grundstruktur bieten, die wir ekklesiologisch die eucharistische Gemeinschaft nennen. Eucharistisches Erleben ist nicht auf katholisch-kirchliches Tun beschränkt bzw. vom sakramentalen Handeln eines Priesters abhängig. Würde die Emmaus-Erfahrung auf diese Form von Eucharistie reduziert, würde sie somit eingeengt auf eine katholische Messfeier, die für viele nicht mehr eine Emmaus-Erfahrung ist, bei der ihnen „die Augen aufgehen“. Wo sind meine Orte des göttlichen Brotbrechens? In den brüchigen und ambivalenten Erfahrungen des Miteinanderessens im Familienkreis, im Freundeskreis, in den vielen zwischenmenschlichen Begegnungen?

(7)  Jesus Christus als Verborgener

„Da wurden ihre Augen aufgetan, und sie erkannten ihn.“ (Vers 30f) Der Auferstandene bleibt zunächst unerkannt. Erst schrittweise gehen die Augen auf. In der Auferstehungsgeschichte bei Johannes verwechselte Maria Magdalena den Auferstandenen mit einem Gärtner (Joh 20,1.11-18). Bei der Erscheinung im Abendmahlsaal (Joh 20,19-23) oder bei den Erscheinungen am See (Joh 21,1-4) wiederholt sich dieses literarische Muster:  die Gestalt der Erscheinung wird erst in weiterer Folge mit der Person Jesu identifiziert.

Die Emmausjünger „träumen“ in der Begegnung mit dem Fremden und in der auch außerpsychisch objektiv erfahrbaren Wirklichkeit vom auferstandenen Jesus. Betont wird in der Erzählung das visuelle Element der „aufgegangenen Augen“. Die Auferstehung spielt sich somit nicht nur im träumenden Bewusstsein ab wie bei einem Schlaftraum, sondern hat einen sichtbaren Anhaltspunkt.

Der Wert dieser Sichtweise führt uns weg von den Orten Emmaus, Jerusalem oder dem See von Galiläa hin zu den Orten, in denen wir leben. Wir können die Emmaus-Erfahrungen an unseren konkreten Orten und in unserer Zeit machen. Die neutestamentliche Emmauserzählung soll uns ermutigen, den Visionen und Träumen in unserem Leben mehr Raum zu geben, ja vielleicht mehr noch, uns von ihnen bestimmen zu lassen. Wären die Träume an der Macht, so wäre diese Welt wohl eine bessere! Die Evangelisten hatten den Mut, die Jesus-Geschichte nach seinem Tod mit Visionen von der Auferstehung fortzuschreiben. Sie ermutigen dazu, im Bewusstsein, dass wir an einen sich in der Geschichte stets offenbarenden Gott glauben, unsere Auferstehungs-Visionen selbst wahrzunehmen und sie wirklich werden zu lassen.

(8) Mut zu Umkehr und Neubeginn

„und kehrten nach Jerusalem zurück.“ (Vers 33) Obwohl es bereits Abend wurde, blieben nun die beiden Jünger nicht bequem in ihrer Emmaus-Herberge. Ihr Herz brannte. Sie waren begeistert; sie wollten zu den anderen Jüngern. Diese Erfahrung von Auferstehung wollten sie nicht für sich behalten. Die Auferstehungsgemeinschaft wächst, wenn wir im Text weiterlesen, denn auch die Elf und ihre Gefährten und Gefährtinnen hatten Auferstehungserlebnisse. So wurde Kirche der Auferstehung. Träume und Visionen werden geteilt. Für die Christen und Christinnen der Urkirche galten wohl die Worte von Faust, die er beim Osterspaziergang aussprach: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selbst auferstanden.“ Und Goethe lässt auch deutlich werden, wie diese Auferstehung konkret und materiell geschieht, als Befreiung von Unterdrückung und Lebensverstümmelung:

„Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern/
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden/
aus dem Druck von Giebeln und Dächern/
Aus den Straßen quetschender Enge/
Aus den Kirchen ehrwürdiger Nacht/
sind sie alle ans Licht gebracht.“

In diesem Faust’schen Ausruf wird hörbar, was Auferstehung vor allem in einem politischen Sinne bedeutet. Dazu freilich ist es notwendig, den alten Goethe mit heutigen Wirklichkeiten in Verbindung zu setzen.

Klaus Heidegger, Ostern 2025

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