
1. Mai 1945. Befreit wurden das Land und die Stadt. Ich bin in Bregenz. Ein Kind hält liebevoll einen knallroten SPÖ-Luftballon. Die Hauptstadt Vorarlbergs hat einen roten Bürgermeister. Das passt zum 1. Mai. 1. Mai 2025. Exakt 80 Jahre ist es her. Am 1. Mai 1945 kamen französische Truppen über den kleinen Grenzfluss Leibach, der Lindau und Bregenz voneinander trennt und in den Bodensee mündet. In Bregenz hielten sich an diesem Tag noch die letzten Verteidigungsbastionen der Wehrmacht und ein fanatischer General mit Endkampf-Phantasien verhinderte das, was andere Bürgerinnen und Bürger der Stadt längst wollten: Eine Kapitulation, ein Abschütteln der Nazidiktatur, eine Ende des Tötens und Mordens. In den ersten Monaten des Jahres 1945 hatten in Vorarlberg Deserteure und Widerstandsgruppen versucht, sich dem Naziwahn zu widersetzen, während Gauleiter Hofer dem Phantom einer „Alpenfestung“ nachhängte. Viele der widerständischen Menschen wurden gefoltert, inhaftiert oder umgebracht. Weil es anders als in Innsbruck in Bregenz zu keiner Kapitulation kam, wurde gekämpft, kam es nochmals zu Gefechten und Zerstörungen. Die französischen Truppen gingen dennoch, so weit dies möglich war, maßvoll vor. Sie wollten als Freunde und nicht als Eroberer kommen. Das verhinderte Schlimmeres. Was meinen Opa betrifft, kamen sie freilich viel zu spät. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er wurde schon einige Zeit davor in die Wehrmacht einberufen und musste seine junge Familie allein in Bludenz zurücklassen. Ich kenne ihn nur aus den verklärend verklärten Erzählungen meiner Mutter. Ich kenne nur sein Sterbebild auf einer Gedenktafel in der Totenkapelle von Prutz. Er sieht mir sehr ähnlich.
Erster Mai 2025. Eine kleine Demonstration geht durch die Bregenzer Innenstadt. „Free Palestine“, „Free Kurdistan“ – so die Botschaft der Menschen. Die Demonstration geht vorbei an dem Denkmal, das seit 2015 an Vorarlberger erinnert, die im Widerstand gegen die Nazidiktatur waren. In einer sich wiederholenden Schleife tauchen wie bei einer Bahnhof-Anzeigetafel nacheinander rund 100 Namen jener Menschen auf, die sich in irgendeiner Weise dem Naziwahn widersetzt hatten. Während ich die Kurven hinauf zum Pfänder radle, denke ich an sie. Solcher Widerstand schenkt Mut in einer Zeit, die sehr viel Widerstand braucht – gegen die Vorbereitungen neuer Kriege, gegen ein Denken in Feind-Freund-Kategorien, gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen.
Die kleine 1. Mai-Demonstration der palästinensisch-kurdischen und antiimperialistischen Gruppe endet am Platz vor dem Vorarlberg Museum. Dort ist auch eine dreieinhalb Meter hohe Skulptur mit dem Titel „Knoten“. Für den Vorarlberger Künstler stellt dieser „Knoten“ die sukzessive Selbstzerstörung dar. Ihn zu lösen, so steht es auf einer Erklärungstafel darunter, sei eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Am nahen Bodenseestrand sind bereits einige Menschen ins Wasser gegangen. Die Studien zeigen die Folgen der klimatischen Erwärmung. Die Temperatur des großen Binnengewässers habe sich seit den späten 60er Jahren um ein Drittel erhöht. Der See hat Niedrigwasser. Die Pegelstände sind im Rekordminus. Ich denke an den Knoten vor dem Vorarlberg Museum: Der Knoten der Selbstzerstörung, den es zu lösen gilt.