
Der Name des ältesten und ursprünglichsten Teils von Lindau überrascht. Es heißt nicht „am“, sondern „im“. Die alte Stadt Lindau liegt im Bodensee, eine Insel also ist es, verbunden durch Brücken mit dem „Festland“. Auf den Plätzen zwischen den historisch-pittoresken Häusern, Hotels, Geschäften, Restaurants, Palais und Kirchen sind passend zum Namen Lindau immer wieder Linden zu finden. Ein Lindenblatt ist auch Teil des Stadtwappens. Wohl bekannteste Sehenswürdigkeit ist aber der mächtige Löwe – Symbol der ehemaligen Macht des bayrischen Königreiches. Er thront auf der einen Seite der Hafenbucht, auf der anderen Seite ist der Leuchtturm. Ich lasse mich beim Spaziergang überraschen von den Geschichten, die mir die Orte und Plätze erzählen.
Zwei der ältesten Kirchen Lindaus stehen heute am Kirchplatz friedlich nebeneinander. Dazwischen ein Baum: Eine Linde. Das katholische Münster „Unserer Lieben Frau“ geht vom Ursprung her auf das Jahr 810 zurück. Die Mauerwerke außen sind romanisch, innen herrscht der Barock. Das katholische Münster zählte eins zum Damenstift, vom dem aus eine Äbtissin über Jahrhunderte die Geschicke der Stadt leitete. Die Äbtissin war eine mächtige Frau mit Hirtenstab, den Bischöfen gleichgestellt. Die evangelische Kirche St. Stephan daneben ist seit der Reformation evangelisch-lutherisch. Die Geschichte erzählt von den „Barfüßer-Mönchen“. Gemeint sind die Franziskaner, die ganz in der Nähe ihr Kloster hatten und sich nicht dem weltlichen Reichtum hingaben, sondern der Hingabe den Kranken und Armen galt, insbesondere den Pestkranken. Dieses soziale Engagement war mit ein Grund, warum die Stadt Lindau sich der Reformation anschloss. Heute finden sich in der evangelischen Kirche kaum Bilder und keine barocken Schnörkel. Mit sanft-grünen Ornamenten verziert sind die Wände. Über das schlichte Holzkreuz im Altarraum zwischen Taufbecken und Altar hängt das weiße Tuch der Auferstehung. Ein altes Glasfenster zeigt die Tempelaustreibung mit einer antisemitischen Darstellung eines Juden, der gierig einen Geldsack aus dem Tempel trägt. Eine Tafel darunter weist deutlich auf diesen Antisemitismus hin und entschuldigt sich für die Schuld, die die Kirchen mit solchen Darstellungen über die Jahrhunderte gegenüber dem jüdischen Volk verübt haben. Die Linde zwischen den beiden Kirchen ist zum Friedensbaum geworden.
Eine ähnliche geschichtssensible Aufarbeitung wie in St. Stephan finde ich in der ältesten Kirche von Lindau. Die romanische Kirche St. Peter mit ihren mittelalterlichen Fresken hat im Eingangsbereich Tafeln, die an die in den beiden Weltkriegen im Gefecht gestorbenen erinnern. Hinter dem Namen von manchen Personen findet sich auch das Symbol der Waffen-SS. Man hat es inzwischen nicht ausradiert, sondern weist mit einer Tafel auf dieses Zeichen des Verbrechens hin. Noch wichtiger ist aber wohl die neue Gedenktafel, auf der die anderen Opfer des Hitlerwahns stehen: Menschen aus Lindau, die aufgrund ihres Widerstands gegen die NS-Herrschaft umgebracht wurden oder als beeinträchtigte Menschen oder aufgrund der Rassengesetze in Vernichtungslager kamen. Die Tafel mit diesen Namen ist wie eine Warntafel, dass es nie mehr wieder Rassismus, Antisemitismus, Imperialismus oder Fremdenfeindlichkeit geben darf.
Auf einem anderen Platz findet sich zwischen den Pflastersteinen ein kleiner weißer Stein mit dem klassischen Zeichen der Anti-Atomwaffenbewegung. Ab den 1980er-Jahren trafen sich an dieser Stelle wöchentlich Menschen zu einem Schweigen, um gegen die Aufrüstung zu demonstrieren. Auch wir in Innsbruck hatten damals unseren fixen Treffpunkt in der Altstadt von Innsbruck. Und heute? Es findet eine gigantische Hochrüstung statt, es finden Kriege statt – es gibt aber keine friedensbewegten Manifestationen mehr.
Die Masse der Touristinnen und Touristen in Lindau stolpert nicht über den weißen Pflasterstein. Die Masse ist in den Gastgärten der Fußgängerzonen. In der Peterskirche bin ich allein. Die Warntafel bleibt ungelesen. Der Blick in Speisekarten und Schaufenster ist verlockender.