Fünf Tage am Karnischen Höhenweg – einem Friedensweg folgen

Der erste Tag: Von Sillian zur Sillianer Hütte bis zur Obstanserseehütte

Es ist ein Montag in der Mitte des Septembers 2025. Morgens um 7:00 Uhr fährt der erste Direktbus von Innsbruck nach Osttirol. Warum es keinen Direktzug mehr gibt zwischen den beiden Landesteilen Tirols, zählt wohl zu verkehrspolitischen Dummheiten. So also reiht sich der Doppeldeckerbus auf der Brennerautobahn abwechselnd ein zwischen der Lastwagenkolonne oder dem PKW-Massenverkehr, der nicht minder dann auch auf der kurvenreichen Bundesstraße im Pustertal HERRSCHT. Unser Startpunkt für den Karnischen Höhenweg ist am Marktplatz von Sillian (1109 m).

Es tut gut, der Herrschaft der Autowelt zu entkommen. Vier Stunden sind für die erste Hälfte der heutigen Etappe bis zur Sillianer Hütte angegeben. Die Wälder nehmen uns mit ihrem Duft und ihrem Grün und dem herbstlich gefärbten Gestrüpp auf. Allerdings zeigen die Fichtenwälder mit abgestorbenen Bäumen dazwischen ihre Schwächen in Zeiten des Klimawandels. Extremwettereignisse, Stürme, Hitze und dann der Borkenkäfer setzen den Monokulturen zu. Ganze Waldstriche sind braun. Dem Heimatsteig entlang sind verschiedene Infotafeln über die geologischen, wirtschaftlichen oder naturkundlichen Besonderheiten der Gegend. Der Name des Steiges erinnert an die Schreckenszeit des Ersten Weltkrieges. Diese Geschichte wird uns auf der Wanderung immer wieder begleiten. Oberhalb des Waldes beginnt ein Meer rotgefärbter Blaubeersträucher. Wir wählen den steileren Steig über das Heimkehrerkreuz (2373 m). „Nie wieder Krieg!“ werden sich die Osttiroler Kriegsheimkehrer wohl gedacht haben, als sie auf dem Vorgipfel am Karnischen Kamm 1948 ihr Kreuz errichtet hatten. Von dort aus wird die Sillianer Hütte (2.447 m) schon sichtbar. Sie liegt stolz auf einer Anhöhe. Von Südtirol aus führen Seilbahnen in ihre Nähe auf die Kuppe mit dem Hausberg Helm. Entsprechend viel los ist selbst an diesem Montag dann bei der Sillianer Hütte. Die ersten 1400 Höhenmeter haben wir hinter uns. Wir machen bei der Hütte keine Rast. Die erste Etappe liegt hinter uns und wir hängen gleich die zweit dran. Weitere vier Stunden werden in den Führern dafür vorgeschlagen. Der Weg ist also noch weit und bis halb fünf sollten wir unser Tagesziel erreicht haben. Von nun an wird für uns die Wanderung immer dem Kamm entlang von West nach Ost gehen. Auf der anderen Talseite sind die Sextener Dolomiten. Das Hochpustertal liegt hinter uns. Die Drei Zinnen verstecken sich zwischen den Wolken. Ein markanter Steig führt leicht dem Kamm entlang. Wir bewegen uns abwechselnd in Südtirol und dann wieder in Österreich. Vor mehr als 100 Jahren war die Grenze eine Feindesgrenze, um die erbittert gekämpft wurde. Wir sind Grenzgänger in einer Wirklichkeit, wo Grenzen keine Rolle mehr spielen, nicht so wie in der Ukraine heute, wo der Grenzen wegen getötet wird, nicht wie im Nahen Osten, wo Mauern und Stacheldrahtverhaue das Menschliche verhindert wird, nicht wie an der bosnisch-kroatischen Grenze, wo mit brutalen Pushbacks Menschenrechte täglich neu gebrochen werden. Verfallene Stellungen, Schützengräben aus Stein und ein Soldatenfriedhof bringen immer wieder die Wirklichkeit des Ersten Weltkrieges in Erinnerung. Hier war von 1915-1917 der Stellungskrieg, der Abnützungskrieg, das Morden und Töten von Menschen. Der Kaiser, der dazu aufrief, war nicht auf diesen Höhen, die Befehlshaber saßen in ihren feinen Kasernenstuben in den Städten, mussten nicht fürchten, von Kugeln zerfetzt zu werden oder in Lawinen zu sterben. Dafür waren die Standschützen zuständig, von denen manche erst 14 Jahre alt waren, als sie zum sinnlosen Kriegsdienst gezwungen wurden. Ich gebe beim Wandern meinen traurigen und wütenden politischen Gedanken über die Kriegswirklichkeiten von damals bis heute Raum. Dann wiederum bin ich auf der privat-persönlichen Ebene so dankbar für die Schönheid dieser Bergwelt und vor allem für jene beiden Menschen, mit denen ich mich auf das Abenteuer Karnischer Höhenweg eingelassen habe. Schon von einer Anhöhe aus sehen wir unser erstes Übernachtungsziel. Die Obstansersee-Hütte (2.304 m) liegt bergidyllisch am Fuß eines kühnen Felssporns auf der einen Seite und einem Bergsee davor.

Der zweite Tag: Von der Obstansersee-Hütte zur Porzehütte

Das Frühstücksbuffet ist großartig mit selbstgemachten veganen Aufstrichen und selbstgemachtem Brot, verschiedenen Müslisorten u.a. Das gibt schon einmal viel Kraft für den Tag. Sollen wir es wagen, bei den nicht guten Wettervoraussagen die Route über die Gipfel zu nehmen oder doch lieber eine Variante, die unterhalb entlangführen würde? Wir wählen die Gipfelvariante. Sechseinhalb Stunden sind dafür vorgesehen. Das Paar hinter uns dreht um. Im Wolkendickicht kommen wir zum Gipfelkamm. Dann hören wir in der Ferne schon ein Donnern. Kräftiger Regen gemischt mit Hagelkörnern setzt ein. Die Felsen sind klitschnass. Über den Steig rinnt braungefärbtes Wasser wie Miniatursturzbäche. Am Gipfel der Pfannspitze (2.678 m) nehmen wir uns keine Zeit für eine Rast. Nur schnell wieder hinunter. Durchschnaufen und Aufatmen kommt später. Hose, Schuhe – alles ist nass, als wir bei der Standschützenhütte (2350 m) ankommen. Allerdings lichtet sich nun der Himmel. Dunkelblau kommt der Himmel zwischen den schneeweißen Wolken hervor. Feuchtigkeitstrunken sind die Moorböden, über die der Steig uns führt. Hinter uns ein mächtiger Felszacken. In nordwestlicher Richtung zeigt sich das frisch angeschneite Glocknermassiv. Es ist ein entspanntes Wandern in wunderbarer Landschaft bis zur Porzehütte. Es geht auf ein Joch hinauf. Die Hänge sind voll roter Blaubeersträucher. In einem Almgebiet liegt ein idyllischer See. Auf der Porzehütte haben wir viel Zeit. Wir erkennen nun auch jene, die mit uns schon auf der ersten Hütte gewesen sind. Unweit der Hütte sind Blaubeersträucher und ich pflücke eine Schüssel voll mit ihnen. Das Hüttenpersonal ist äußerst freundlich und verwöhnt mit einem vegatarischen Menü der Extraklasse. Im Lager schlafe ich trotz früher Stunde schnell ein.

Der dritte Tag: Die Königsetappe zum Hochweißsteinhaus

Mein Freund ist ein Gecko am Fels.  Er will ganz klar nicht die leichtere Variante auf italienischem Gebiet wählen. Ausgesetzte Steige entlang von Steilflanken sind für ihn nichts anderes als ein Spaziergang entlang von Straßen. Diesbezüglich habe ich mich sehr gewandelt. Das wird mir an manchen Stellen schon zur Herausforderung am heutigen Tag. Dankbar bin ich auch, dass mein Sohn die ausgesetzten Steige so locker packt. Es ist eine Etappe, die mit bis zu 9 Stunden angegeben wird. Zunächst geht es noch steil hinauf zu einem Gipfel. Die Wolken verziehen sich. Die Felsen werden trocken. Die Steige gehen teils direkt am Grat oder, was ich eben nicht mag, entlang von Steilflanken und hin und wieder müssen auch schottrige Runsen gequert werden. Dann gibt es zum Glück aber auch wieder Abschnitte zum Entspannen. Wir gehen pausenlos. Die möglichen Gipfelziele am Kamm lassen wir bewusst aus. Zwei Stunden vor der Ankunft sehen wir am Luggauer Törl bereits das Ziel des heutigen Tages. Wir beobachten Murmeltiere. Wir staunen über die blanken weißen Wände, die sich vor uns auftürmen und sind dann überrascht, dass der Steig hinüber zum Tagesziel noch lang und teils ausgesetzt wird. Der neue Track von outdooractive schlägt deswegen auch vor, den Weg hinunter zu einer Alm zu nehmen und nicht entlang des absturzgefährdeten Geländes. Gerade bei einer Engstelle am Steilhang versperrt ein Schaf mit ihren zwei frischgeborenen Lämmern den Weg.

Das Hochweißsteinhaus liegt zum Unterschied der gestrigen Hütte als Schutzhütte ganz in der imposanten Bergwelt.  Alle, die heute noch nach der Königsetappe ankommen, wirken erleichtert. Zwischen uns, die wir in der gleichen Richtung unterwegs sind, entsteht fast so etwas wie eine familiäre Gemeinschaft. Mehr als ein Dutzend Menschen sind es aber um diese Jahreszeit nicht. In Gegenrichtung begegnete uns heute niemand.

Der vierte Tag: Vom Hochweißsteinhaus zur Weyrerseehütte

Weiter geht es nun auf dem Karnischen Höhenweg oder Friedensweg mit der Nummer 403 und den rot-weißen Markierungen. Im Führer steht, dass es nach der Königsetappe eine sanfte Tour werden wird. Der Himmel ist strahlend blau. Es geht zunächst noch die Hochalmböden mit den herbstlich-rot gefärbten Blaubeersträuchern auf das Öfnerjoch hinauf – und dann hinunter ins Fleornstal, ein italienisches Almhochtal mit Bergwiesen und lichten Wäldern. Im Süden ist das Tal von mächtigen Felswänden begrenzt. Wir sind in der Provinz Belluno. Die Markierungen sind spärlich. Italien! Die Wegführung weit hinunter in ein Tal, zu Almen, wieder weit hinauf, wo Stellungen aus dem Frontkrieg zwischendrin als zeitlose Zeugen gegen den Krieg zu finden sind, dann schließlich wieder hinunter in ein breites grünes Tal und schließlich hinauf zur Weyrerseehütte.

Das Panorama rund um die Hütte ist beeindruckend. Vor allem die Seewarte, die sich vor dem Weyrersee mit ihrer glatten Nordwand aufbäumt, zieht immer wieder meinen Blick an sich. Wir haben nach dem Ankommen auf der Hütte Zeit, rund um den See zu gehen und die spektakuläre Landschaft auf uns wirken zu lassen.

Der Abschlusstag: Abstieg und Fahrt nach Kötschach-Mauthen

Schon um 5.00 Uhr bin ich vor der Hütte am See. Der abnehmende Mond und ein kräftiger Stern darunter beleuchten den noch dunklen Morgenhimmel. Tausende Sterne funkeln. Dankbar begrüße ich den Tag, das Zusammensein mit meinem Sohn und meinem Freund, das Traumherbstwetter.  Noch einmal werden wir mit einem guten Frühstücksbuffet beschenkt. Der 403-Weg beginnt am See entlang der beeindruckenden Nordwände von Seewarte und Hoher Warte. Auf der anderen Seite hinunter zur Valentinalm. Einige der Wandernden, die wir mit der Zeit kennen lernten, organisierten von der Plöckenstraße weg einen Taxi-Bus hinunter nach Kötschach-Mauthen. Das Warten auf den Anschlussbus nach Oberdrauburg am Bahnhof schenkt Zeit zum Wahrnehmen des Ortes, an dem wir sind. Seit zehn Jahren wird Kötschach-Mauthen nicht mehr von der Bahn angefahren. Die Gailtalbahn fährt nur mehr bis Hermagor. Die Strecke dorthin wird nun als „Gailtal-Draisine“ nur mehr touristisch benützt. Für uns geht es mit dem Bus weiter in die andere Richtung und über den Gailbergsattel nach Oberdrauburg – und wieder eine kurze Wartezeit dort – mit S-Bahn nach Lienz und von dort gleich wieder retour mit dem Direktbus nach Innsbruck. Und wieder werde ich hineingeworfen in den Wahnsinn einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Verkehrspolitik. In den Nachrichten höre ich von jenem Ereignis, das als „historisch“ gewertet wurde. Der Durchstich beim Brennerbasistunnel wurde gestern mit hoher politischer Präsenz – von Meloni bis Stocker und EU-Kommissären – groß gefeiert. An der Tatsache, dass das Verkehrsaufkommen auch in den nächsten Jahren noch steigen wird – 2,5 Millionen Lkw und rund 12 Millionen Pkw im abgelaufenen Jahr am Brenner – wird es nichts ändern. Der politische Wille reicht für milliardenteure Verkehrsprojekte, nicht aber für eine drastische Drosselung des Verkehrs. Im Bus höre ich die Nachrichten wieder: Unser Friedensweg am Karnischen Kamm wird der Kriegswirklichkeit heute nicht zum Mahnmal.

Ein Resümee zu schreiben, will ich eigentlich nicht. Zu umfangreich ist doch all das Erlebte. Das größte Glück liegt ohnehin im privat Erlebten und im Geschenk eines Zusammenseins. Im Äußeren gilt für diese fünf Tage: Die An- und Abreise kann jedenfalls mit öffentlichen Verkehrsmitteln gemacht werden. Für einen Nordtiroler ist die Bergwelt der Karnischen Alpen überraschend mächtig mit steilen Gipfeln und Wänden einerseits und sanften Alm- und Waldlandschaften andererseits, mit idyllischen Seen und Moorböden. Die Alpenvereins-Hütten sind alle im besten Zustand, meist toprenoviert und mit motiviertem Personal. Ich bin einmal mehr dankbar für den Alpenverein, in dem so viel ehrenamtliche Arbeit geleistet wird, dass die Wege gewartet werden und die Hütten in Topqualität sind. Die Steige über die Gipfel verlangen nicht wenig Trittsicherheit und haben meine fallweise Unsicherheit schon herausgefordert. Als Friedensweg erinnert der Karnische Höhenweg an die Irrationalitäten und Kriegshysterien der Vergangenheit und ist wie ein lange Ausruf „nie wieder Krieg“!

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