
Schon morgens an einem Sonntag im November ist Innsbrucks Stadtbild in Hauptbahnhofnähe geprägt von jungen Menschen, die ausgestattet mit Ski oder Snowboard aufbrechen, um den Bus zum Stubaier-Gletscher zu nehmen. Mein Weg führt mit dem Regionalzug nach St. Jodok am Brenner. Vom dortigen Bahnhof sind es nur wenige Minuten bis zum Einstieg. Zu Beginn fühlen sich die Stahlseile an der Stafflachwand eiskalt an. Je höher wir klettern, desto wärmer wird der Körper und die Finger freuen sich über die Griffe am Felsen und am stählernen Seil. Der Klettersteig ist mir vertraut: Die beiden Seilbrücken und viele Querungen, der feste kristalline Fels, die kurzen überhängenden Stellen mit immer mehr Luft unter mir. Es ist ein körperliches Spiel mit der Schwerkraft. Meine Begleiterin klettert wie ein Eichkätzchen. Unten im Dorf spielt die Musikkapelle und die Schützen schießen eine Salve und die Kirchenglocken läuten. In regelmäßigen Abständen donnert ein Zug an der Brennerstrecke am Fuß der Wand vorbei. Von der gegenüberliegenden Talseite hört man das konstante Dröhnen der Autobahn. Sattgrün sind die Wiesen im Valsertal; golden strahlen die Lärchenhaine; mit Neuschnee angezuckert sind die Berge oberhalb der Waldgrenze; manchmal schaut am Himmel ein Blau zwischen den Wolken hervor. Nur zwei andere Kletterinnen sind an diesem frühen Vormittag unterwegs. Die dunkelvioletten Wacholderbeeren lösen sich von den Stauden, die an manchen Stellen in Wandritzen und auf den felsigen Bändern wachsen. Die Aufmerksamkeit gilt dem je nächsten Griff und Tritt. Ich bin angekommen im Augenblick des Seins. Ich werde mir wieder der eigenen Stärke bewusst, um stark zu bleiben in einer dystopischen Welt, um nicht zu verzweifeln angesichts der Aufrüstung und Kriegssituationen, der dummdreisten Zerstörung der Lebensgrundlagen oder der himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Am Bahnhof in Innsbruck sind Horden besoffener Fußballfans und die Luft in den Straßen riecht nach den Abgasen der Autos. Ich träume mich zurück auf die Berge und ihre Stille und will selbst nicht Teil einer Zerstörungskultur sein.