85:15 – Schlechte Chancen für eine gemeinsame Schule und für gleiche Bildungschancen Gemeinsame Schule

schulreformEine gemeinsame Schule – andere sprechen von einer Gesamtschule – fasst alle Schüler und Schülerinnen gleich wie die Volksschule zusammen. Eine Trennung in Neue Mittelschule und Unterstufe Gymnasium gib es dann nicht. Erst mit 14 bis 15 Jahren erfolgt die Differenzierung in verschiedene Schultypen. Das Gymnasium in seiner Oberstufenvariante wird nicht abgeschafft. Daher stimmt es schlichtweg nicht und ist billige Polemik, wenn verallgemeinernd von der „Abschaffung der Gymnasien“ gesprochen wird.
Bildungsreform 2015
Die Errichtung von gemeinsamen Schulen war das umstrittenste Thema bei der jüngsten Bildungsreform. Schritte in diese Richtung wurden aufgrund der Machtverhältnisse jedoch nur sehr zaghaft aufgegriffen. Die ÖVP hatte sich auf Bundesebene entschieden gegen eine gemeinsame Schule gestellt. Die SPÖ war tendenziell dafür. So sieht nun der Kompromiss aus: In bestimmten Modellregionen könnten laut beschlossener Reform nun bis zu 15 Prozent der Schulen bzw. bis zu 15 Prozent der Schüler und Schülerinnen eine gemeinsame Schule besuchen. Zumindest 85 Prozent werden also im alten System bleiben müssen.
Modellregionen
Aus der Sicht von Tirol und Vorarlberg ist dies viel weniger, als ursprünglich angedacht und von der Tiroler Landesregierung angestrebt worden ist. In Innsbruck beispielsweise wird es nicht möglich sein, eine solche Gesamtschulmodellregion zu schaffen, wobei gerade im urbanen Bereich gemeinsame Schulen und damit eine soziale Durchmischung von Schülern und Schülerinnen besonders wichtig gewesen wären. Im Gespräch sind nun als Modellregionen das Außerfern und Osttirol. Inzwischen nehmen jedoch die Stimmen zu, die gegen das Modell einer gemeinsamen Schule sprechen.

Gemeinsame Schule bedeutet Inklusion und Chancengleichheit
Meine Befürwortung einer gemeinsamen Schule sehe ich zunächst von meinen Erfahrungen her. Erstens bin ich selbst Lehrer an einem Oberstufenrealgymnasium. Wir haben an unserer Schule aufgrund von zwei Schwerpunktsetzungen eine bunte Mischung von Schülern und Schülerinnen aus den NMS, aus den Unterstufen der Gymnasien sowie aus Alternativschulen. Der Sprung aus manchen NMS in ein Gymnasium ist für etliche nicht möglich oder nicht leicht. Die Bildungs-Selektion, die für 10-Jährige begonnen hat, wirkt fort. Als ORG gilt es aufgrund der Neuen Matura – insbesondere der Zentralmatura – jenen Level zu erreichen, der auch für die Langformen vorgesehen ist. Hier nun muss eine Mischklasse aus NMS- und Gymnasialschülern und –schülerinnen kräftig aufholen. Manchmal ist diese Herausforderung für die Schüler und Schülerinnen aus den NMS zu Beginn einer Oberstufe besonders groß. Eine gemeinsame Schule würde jene Differenz nicht mit sich bringen. Die ORGs und BHS/BMHS-Schulen könnten ihren Schülern und Schülerinnen einen gleichen Start nach der gemeinsamen Schule ermöglichen.

Gemeinsame Schule bedeutet sozialen Ausgleich
Zweitens bin ich Vater von drei Kindern und habe auch aus deren Erfahrungshintergründen die Schulzeit miterlebt. Schon in der Volksschule bedeutete es für etliche Mitschüler und Mitschülerinnen meiner Kinder einen enormen Stress, dass sie die Volksschulzeit mit ja keinem Zweier abschließen, wenn die Eltern und Schüler und Schülerinnen ins Gymnasium wollten. Diese Fakten sind bekannt. Sie weisen auf die Ungleichheit hin, die in unserem Gesellschaftssystem vorhanden ist. Bekannt ist vor allem das Faktum, dass es Kinder mit Migrationshintergrund oder aus ökonomisch nicht so gut gestelltem Hintergrund oftmals schwerer haben, in die Spuren einer „höheren“ Bildung zu kommen. Die Buntheit unserer Gesellschaft bildet sich nicht in den Unterstufen unserer Gymnasien ab. Wer Integration und Inklusion will, wird Jugendlichen gerade in dieser entscheidenden Lebensphase Möglichkeiten geben, in denen sie gemeinsam lernen und leben können. Kein Ort ist dafür besser geeignet als die Schule.
Gemeinsame Schule ist nicht leistungsfeindlich
Im gegenwärtigen System sind die Voraussetzungen, um überhaupt Leistung zu erbringen, sehr unterschiedlich je nach sozialer Herkunft. Kinder, die weniger Förderung von daheim bekommen, sind im Nachteil, wenn es eine Selektion nach der Volksschulzeit gibt. Eine frühe Weichenstellung erhöht die soziale Selektivität. In einer gemeinsamen Schule erfahren Kinder nicht mehr eine Auslese, sondern eine starke persönliche Förderung je nach ihren Fähigkeiten.
Gemeinsame Schule ist Option für die Schwächeren
Drittens denke ich als Religionslehrer aus dem Blickwinkel der katholischen Soziallehre und der Optionen, für die die Kirche eintritt. Gleichheit – nicht Gleichmacherei – ist einer jener Grundwerte, der aus der gleichen Würde aller Menschen entspringt. Bekannt ist die Tatsache, dass in Österreich Bildung auch von sozialer Herkunft abhängt. Nach einer gemeinsamen Schule wird es immer noch jene vielfältigen Wege gehen, in der die Jugendlichen ihren unterschiedlichen Talenten nachgehen können, sei es in den (Oberstufen)gymnasien, den Berufsbildenden Höheren Schulen oder dass sie ihre Talente in einer Lehre einbringen können. Mit 14 Jahren sind Jugendliche jedenfalls reifer für eine Entscheidung für ein bestimmtes Bildungs- bzw. Ausbildungsmodell als mit 10 Jahren.

NMS und Unterstufen von Gymnasien stehen sich nicht länger im Weg
Die Diskussionen über die NMS nach der Evaluation vom März 2015 zeigten, dass dieser Schultyp deshalb nicht wirklich funktionieren konnte, weil gleichzeitig an der AHS-Unterstufe festgehalten wurde. Niki Glattauer, selbst NMS-Lehrer, meint dazu: „Als Beiwagerl zur AHS-Unterstufe kann eine Schule keine besseren Ergebnisse bringen, die man sich aber fälschlicherweise erwartet hat.“ Damit meint er, dass die NMS nicht nur jene Schüler und Schülerinnen bekommen sollte, die es nicht in ein Gymnasium schaffen. Eine wirkliche Lösung, so Glattauer, liege in einer Gemeinsamen Schule. Ähnlich sieht es auch die für Bildung in Tirol zuständige Landesrätin Beate Palfrader: „Problematisch ist, dass durch den Zug in die AHS-Unterstufe im urbanen Bereich zunehmend die Spitze fehlt. Das ist schlecht, weil Schule am besten funktioniert, wenn die Durchmischung stimmt und schwächere und stärkere Kinder voneinander lernen.“
Inklusion schafft Frieden
Wenn wir eine Spaltung der Gesellschaft verhindern wollen, dann kann es bedeuten, auch beim Bildungssystem anzusetzen. Wenn Kinder mit Migrationshintergrund im urbanen Bereich vor allem in den NMS unterrichtet werden, dann werden Parallelwelten geschaffen oder verlängert. Wenn es aber gelingt, bei den Heranwachsenden in einem System zu arbeiten, wo beide voneinander lernen können, dann wird an einer Gesellschaft gebaut, wo Dialog gelebt werden kann. Dies hat auch Bedeutung für interreligiöse Begegnungen, die auch in einem gemeinsam gestalteten Religionsunterricht Gestalt finden könnten.
Chancen für katholische Privatschulen
Die katholische Kirche hat vielfältige Möglichkeiten, zu einer Reform des österreichischen Schulwesens beizutragen. Die katholischen Privatschulen haben ihren Fixplatz in der österreichischen Schullandschaft. Hier kann eine Schule der Zukunft gestaltet werden. Verantwortliche aus diesem Bereich können mit Rückbezug aus den Erfahrungen die bildungspolitische Diskussion auf den verschiedenen Ebenen mitbestimmen bzw. ihre Autonomie in diese Richtung anwenden. Die Bildungsreform sieht explizit vor, dass Privatschulen autonom eine gemeinsame Schule errichten könnten. Es wäre wünschenswert, wenn die katholische Kirche als bildungspolitischer Player die kleinen Spielräume nützen würde, die die Bildungsreform nun für eine gemeinsame Schule vorgibt. Die Katholische Aktion hat auf Österreichebene bereits vor einiger Zeit bestens ausgearbeitete Papiere vorgelegt, die den Weg in Richtung einer gemeinsamen Schule begründen.
Schritte in die verkehrte Richtung
Mit Ende des Jahres 2015 sieht es nun so aus, dass sich die Politik und damit auch die Schulverwaltung von einer gemeinsamen Schule weiter denn je entfernen bzw. sich mit dem Status eines zweigleisigen Bildungsweges der 10-14-Jährigen abfinden würden. Dafür spricht die Überlegung der zuständigen Tiroler Landesrätin, wieder Aufnahmeprüfungen als Beitrittskriterium für Gymnasien einzuführen. Man spricht zwar im neuen Bildungsjargon nicht mehr von Aufnahmeprüfungen, sondern von Kompetenzüberprüfungen, de facto sind es aber doch Ausschluss-Prüfungen, die wieder einen Druck auf die Kinder und deren Eltern während der Volksschulzeit ausüben werden.
Dennoch: Es ist möglich, an einzelnen Standorten bis zu 15 Prozent der Schulen und SchülerInnen den Weg in eine gemeinsame Schule zu eröffnen. Diese Tür gilt es zu nützen.
Klaus Heidegger 12. Dezember 2015